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Trends im Wählerverhalten

Vom Stamm- zum Wechselwähler?

Forschungsgruppe Deutschland - Juli 2002


Lange Zeit war alles klar konturiert und übersichtlich: Noch in den 60er und 70er Jahren war die Beteiligung bei Wahlen im internationalen Vergleich stets auffallend hoch, das Wählerverhalten vorhersehbar, Parteipräferenzen und Parteiidentifikation in der Bevölkerung tief verwurzelt, der Kreis der Wechselwähler gering, die Anzahl der politischen Stammwähler groß und Begriffe wie "fluides Wählerpotential" weitgehend unbekannt.

Heute ist alles anders. So scheint es jedenfalls auf den ersten Blick. Ob bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg, der Berliner-Senatswahl oder erst jüngst bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt: Nie gab es so viele "erdrutschartige" Siege und Niederlagen für Parteien bei Wahlen wie in den letzten zehn Jahren. Nie haben sich Wählerpräferenzen so schnell und rapide verändert, nie gab es so viele Wechselwähler, nie so viele Nichtwähler wie heute. Das Aufsprengen des jahrzehntelang tradierten Wählerverhaltens, das Verschwinden klarer Zugehörigkeiten, der fortschreitende Bedeutungsverlust der Volksparteien - alles Indizien dafür, dass die politische Landschaft der Bundesrepublik in Bewegung, in Turbolenzen geraten ist. Von rückläufiger Parteienidentifikation ist allenthalben die Rede, vom "wählerischen Wähler", von einem "gewandelten Politikverständnis", das sich "zunehmend als punktuell, situativ, kontextabhängig, erlebnis- und betroffenheitsorientiert erweist" - und so ein neues Wahlverhalten prägt.


Aufgaben und Theorie der Wahlforschung

Die Wahlforschung dient der Erklärung des Prozesses der politischen Willensbildung. Sie will längerfristige Verschiebungen auf dem Wählermarkt aufspüren, will individuelle wie gruppenspezifische Faktoren untersuchen, die Einfluss auf die Herausbildung der Wahlentscheidung beim Wähler haben. Dadurch kann sie eventuelle Störungen zwischen Wähler und Gewählten erkennen und der politischen Öffentlichkeit Maßnahmen vorschlagen.
Für den politischen Alltag, die Parteiarbeit, den Wahlkampf sind die von der Wahlforschung durchgeführten Prognosen höchst relevant.

Es lassen sich drei Ansätze in der Forschung unterscheiden, die Wählerverhalten erklären. Alle drei theoretischen Erklärungsmodelle stellen einen Bezug zwischen dem Wählerverhalten und entsprechenden, meist vorgelagerten Einflussfaktoren her. Dieser Bezug muss theoretisch plausibel wie empirisch überprüfbar sein.

Der soziologische Erklärungsansatz unterteilt sich in eine mikrosoziologische-, sowie in eine makrosoziologische Perspektive. Die mikrosoziologische Perspektive betont "die verhaltensrelevante Bedeutung des sozialen Umfelds": Wählerverhalten wird hier als Gruppenverhalten identifiziert. Die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen, mit je eigenen politischen Präferenzen, bestimmt die individuelle Wahlentscheidung. Der Einfluss von Massenmedien und Wahlpropaganda wird dagegen als gering eingestuft. Das Erklärungsmodell setzt das Individuum in den Einflusskreis sozialer Gruppenzugehörigkeit, anhand dessen ausgeformten politischen Verhaltensformen das Individuum seine Wahlentscheidung ausrichtet. Vor allem längerfristiges, konstantes Wahlverhalten kann aus dieser Perspektive gut erklärt werden - nicht jedoch kurzfristige Änderungen oder Wechselwahl.

Im Unterschied zur mikrosoziologischen Perspektive hebt der makrosoziologische Ansatz auf Allianzen zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen und politischen Parteien ab. Seymour M. Lipset und Stein Rokkan entwickelten in den 60er Jahren ein zweistufiges Modell, mit dessen Hilfe sich Ausprägung wie Veränderung von Parteiensystemen erklären lassen. Demnach bilden sich politische Parteien parallel zu in der Gesellschaft vorhandenen Konfliktlinien ("cleavages"). Politische Eliten koalieren mit den von den Konflikten auf unterschiedliche Weise betroffenen Bevölkerungsgruppen, integrieren und artikulieren deren jeweilige Interessen. Anhand dieses Vorganges bildet sich ebenfalls langfristig konstantes Wahlverhalten aus.

Einen anderen Weg geht das Modell des rationalen Wählers, das von Anthony Downs in den 50er Jahren entwickelt wurde und sich ganz auf die Analyse individueller Entscheidungskalküle bei der Wahlentscheidung konzentriert. Der rationale Wähler entscheidet sich, gruppenungebunden, bei jeder Wahl für diejenige Partei, von der er sich den größten Vorteil verspricht. Die individuelle Wahlentscheidung wird hier einzig durch ihren maximal zu erzielenden politischen Nutzen bestimmt. Der Wähler orientiert sich also vornehmlich an aktuellen Streit- und Sachfragen ("issue-voting"), vergleicht die Arbeit der Regierung mit dem vermuteten Ergebnis der Opposition - und entscheidet sich dann für die Partei, von der er sich erhofft, dass sie seine Ziele am ehesten verwirklicht. Kurzfristige Änderungen im Wahlverhalten lassen sich mit diesem Modell schlüssig erklären - nicht jedoch die Wahl kleinerer Parteien, die keinerlei Chancen auf Regierungsbeteiligung haben.

Der - in der Wahlforschung wohl etablierteste - "Individualpsychologische Ansatz" rekonstruiert individuelles Wahlverhalten aus dem Zusammenwirken politisch institutioneller, sozialkultureller sowie psychologischer Bedingungsfaktoren. Konkret wird die Wahlentscheidung des Bürgers durch einen langfristigen sowie zwei kurzfristige Faktoren determiniert: Zum einen beeinflusst die Einstellung des Wählers gegenüber den jeweiligen Kandidaten die Wahlentscheidung, zum anderen wirkt die aktuelle Problemlage und die vom Wähler unterstellte Problemlösungskompetenz darauf ein. Als langfristige Determinante, quasi als "parteipolitischer Filter für die Wahrnehmung und Bewertung von politischen Themen und Kandidaten" wirkt die Parteiidentifikation. Es handelt sich bei ihr "um eine Art psychologische Parteimitgliedschaft", die stabilisierend auf das Wahlverhalten einwirkt.

Mag auch die Diskussion um Ursachen, Konsequenzen, Handlungsanweisungen strittig und kontrovers sein - der Befund eines sich verändernden Wahlverhaltens ist es nicht. Gleichzeitig präzisieren und relativieren sie vorschnelle Analysen, zeichnen keineswegs ein so eindeutiges Bild des gesamtdeutschen Wahlverhaltens wie manche Glauben machen möchten - und negieren so allzu simple Schlussfolgerungen: Die Realität ist hoch komplex, und doch lassen sich zumindest Entwicklungstendenzen rekonstruieren. Drei markante Trends stehen im Mittelpunkt des Interesses: Der steigende Anteil von Nichtwählern, die Zunahme der Wechselwähler und die Unterschiede der Wählerschaft in Ost- und Westdeutschland.

Zunahme des Nichtwähleranteils

Spätestens seit Anfang der 80er Jahre lassen sich nachhaltigen Veränderungen und Wandlungen im Wählerverhalten beobachten. Mit der konventionellen Partizipation ging auch die Wahlbeteiligung zurück. Sie erreichte bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990 ihren "Minusrekord" mit lediglich 77,8 Prozent Wahlbeteiligung. Im Superwahljahr 1994 noch zaghaft, trug erst der Wunsch nach einem Regierungswechsel im September 1998 wieder zu einem kräftigeren Anstieg der Wahlbeteiligung (82,2 Prozent, 1972 waren es 91,1 Prozent) bei. Trotzdem: Vor allem auf Landes- und Kommunalebene vergrößert sich der Nichtwähleranteil stetig. So stieg beispielsweise der Nichtwähleranteil bei Landtagswahlen "von durchschnittlich etwa 20 Prozent in den 70er-Jahren auf über 30 Prozent Ende der 90er Jahre." Gleichzeitig liegt die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen, vor allem in Großstädten, häufig unter 60 Prozent.

Wachsende Zahl von Wechselwählern

Der demographische, berufsstrukturelle und soziokulturelle Wandel, der mit einer Pluralisierung und Individualisierung von Lebensstilen und -formen einherging, bewirkte eine (Teil-)Auflösung der tradierten Milieu- und Parteienbindung. Die Kategorie der klaren (Gruppen-)zugehörigkeiten ist heute weitgehend obsolet geworden.

Stattdessen herrschen neue Unsicherheiten und Chancen für die Individuen, kommt es zum Aufschmelzen von tradierten Milieus, bedingt durch geforderte und forcierte soziale wie geographische Mobilität. Ebenso kommt es zu einer zunehmenden Verstädterung und wachsenden sozialen Desintegration. Dies alles aber, so zeigt die Wahlforschung, geht einher mit dem Verlust an sozialer Kontrolle und damit auch mit dem Verlust an Kohärenz im Wahlverhalten. Mit der geographischen und sozialen steigt auch die politische Mobilität der Wählerschaft. Es kommt zu einer "Flexibilisierung des Wahlverhaltens", welches sich empirisch dadurch kennzeichnet, dass der Anteil der Stammwähler abschmilzt und sich gleichzeitig der Anteil der Wechselwähler vergrößert. Bei den Wahlen 1998 gaben durchschnittlich 75 Prozent der Wähler ihre Zweitstimme derselben Partei, die sie auch schon 1994 gewählt hatten. Lediglich 25 Prozent wechselten ihre Parteipräferenz. Dies entspricht einer Steigerung von 2 Prozentpunkten im Vergleich zu der Wahl 1994. Allerdings: Die besondere Relevanz dieses Wahlsegments ergibt sich daraus, dass sein Votum trotzdem wahlentscheidend sein kann.

Eine steigende Volatilität des Parteiensystems ist die Folge - aber auch eine Veränderung der Handlungslogik und Darstellungsanforderungen der Politik selbst: Wo immer mehr Wähler immer häufiger die Parteipräferenz wechseln, wo kurzfristige Faktoren für die Wahlentscheidung immer wichtiger werden, da wird auch die Politik, zumal im hektischen Pulsschlag einer Mediendemokratie, punktueller und gegenwartsfixierter, da wird der Personalisierungsdruck groß und die programmatische Ausrichtung der Parteien klein.

Schwindende Parteiidentifikation

Erklärt werden die Ursachen für die Flexibilisierung des Wahlverhaltens in der Wahlforschung zumeinst mit der sinkenden Bedeutung von Parteiidentifikation der Wählerinnen und Wähler.

Durch Längsschnittanalysen der Parteiidentifikation lässt sich zeigen, dass Ausmaß wie Intensität der Parteiidentifikation in den 90er Jahren sowohl in den alten-, wie auch in den neuen Bundesländern tatsächlich messbar gesunken ist. Daraus folgt ein leicht angestiegener Anteil der Wechselwähler. Denn: Mit fehlender Parteiidentifikation geht eben auch der "parteipolitische Filter" verloren, der langfristige, situativ weitgehend immune Parteibindungen erst möglich macht.

Eine jüngst veröffentlichte Studie hat empirisch gezeigt: Der Kreis der Stammwähler hat während der letzten Jahre merklich abgenommen. Etwa die Hälfte aller Wahlberechtigten identifiziert sich nicht mehr mit einer Partei (47 Prozent stuften sich parteipolitisch als nicht gebunden ein). Insgesamt wird das Wähler- bzw. das Nichtwählerverhalten immer flexibler, damit aber für die Parteien, für die Analysten und die politischen Mandatsträger immer unberechenbarer.

Jedoch bleibt festzuhalten: So groß, so bedeutend ist die Wechselbereitschaft in der Wählerschaft nicht. So radikal ist auch der Rückgang der Parteibindung nicht, wie schnell orakelt, befürchtet, herbei gesehnt wird: Zwar ist der Anteil derjenigen Wähler mit Parteiidentifikation von 84Prozent im Jahr 1987 auf heute rund 70 Prozent zurückgegangen. Das Wählerverhalten ist damit jedoch trotz gestiegener Bedeutung kurzfristiger Einflüsse auf die Wahlentscheidung noch immer zu einem großen Teil "langfristig durch Sozialstruktur und Parteienbindung geprägt".

Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Ost und West

Bei Wahlanalysen zeigen sich gravierende qualitative wie quantitative Unterschiede zwischen den alten- und neuen Bundesländern in puncto Wahlverhalten und Parteiidentifikation. Dies lässt den Schluss zu, dass die Bürger in den neuen Bundesländern bis heute über ein anderes Wertesystem-, ein unterschiedliches Politik- und Demokratieverständnis-, vor allem über ein eigenes Wahlverhalten verfügen als die Bürger in den alten Bundesländern. Die "besondere politische Regionalkultur Ostdeutschlands", welche erst die hohe Volatilität bei fehlender Parteibindung und den hohen Anteil von Nicht- oder Protestwählern erklärt, zeigt sich beispielsweise in der festen Verankerung der PDS in Ostdeutschland. Deutlich wurden die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen alten und neuen Bundesländern, die mit einer Zweigliederung des Parteiensystems einhergehen, zuletzt bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 21.10.2001. Die vier etablierten Parteien des westdeutschen Parteiensystems (CDU,SPD, FDP, B 90/Grüne) bekamen in Westberlin zusammen 88,4 Prozent der Zweitstimmen-, im Osten dagegen lediglich 46,7 Prozent - und damit weniger als die PDS, die im Osten der Stadt 47,6 Prozent- im Westen dagegen nur 6,9 Prozent erreichte.


Literatur

Bürklin, Wilhelm P / Klein, Markus: Wahlen und Wählerverhalten. Eine Einführung, Opladen 1998.

Dahlem, Stefan: Wahlentscheidung in der Mediengesellschaft. Theoretische und empirische Grundlagen der interdisziplinären Wahlforschung, München 2001.

Deth, Jan W. van Hrsg.): Die Republik auf dem Weg zur Normalität? Wahlverhalten und politische Einstellungen nach acht Jahren Einheit, Opladen 2000.

Dörner, Christine (Hrsg.): Politische Meinungsbildung und Wahlverhalten. Analysen zum "Superwahljahr" 1994, Opladen 1998.

Eckstein, Gabriele: Rationale Wahl im Mehrparteiensystem, Frankfurt am Main u.a. 1995.

Glaab, Manuela/Andreas Kießling: Legitimation und Partizipation, in: Karl-Rudolf Korte/Werner Weidenfeld (Hrsg.): Deutschland-TrendBuch. Fakten und Orientierungen, Opladen 2001, S. 571-611

Jung, Matthias / Roth, Dieter: Wer zu spät geht, den bestraft der Wähler. Eine Analyse der Bundestagswahl 1998, in: ApuZ: B 52/98

Klingemann, Hans-Dieter (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1998, Wiesbaden 2001.

Korte, Karl-Rudolf: Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland, 3., überarb. und aktualisierte Aufl., Bonn 2000.

Roth, Dieter: Empirische Wahlforschung. Ursprung, Theorien, Instrumente und Methoden, Opladen 1998.

Schwaabe, Christian: Der distanzierte Bürger. Gesellschaft und Politik in einer sich wandelnden Moderne, München 2002.


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  W e b d o s s i e r

Bundestagswahl 2002

1. Interview

2. Wahlsystem

3. Trends des Wählerverhaltens

4. Wahlkampf in der Mediendemokratie

5. Politikstile der Kanzlerkandidaten

6. Blickpunkte

7. Links
 
           
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