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FAZ vom 03.07.1998

Europa vor der Vollendung

Der Qualitätssprung der Integration erfordert strategische Weichenstellungen

Von Werner Weidenfeld und Josef Janning


Der Beitrag ist die Kurzfassung der Diskussionsgrundlage der Verfasser für das International Bertelsmann Forum vom Juli 1998, in leicht gekürzter Fassung veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3.7.1998.

Lesen Sie auch den IBF-Bericht von Hugo Bütler in der NZZ vom 6.7.98 und den Beitrag "Euro und Erweiterung" von Werner Weidenfeld in der NZZ vom 10.7.98.


In den zurückliegenden zehn Jahren hat die europäische Integration eine substantielle weitere Verdichtung erreicht: Die gemeinsame Währung wird eingeführt, die Öffnung nach Osten hat begonnen, und der Vertrag von Amsterdam vertieft die politische Integration, wenn auch mit verhaltenen Schritten, weiter. Gleichzeitig wird dieses große Europa mit wachsender Ausdehnung ambivalenter; es rückt näher zusammen und wird damit konfliktträchtiger.

Das Schwinden des Außendrucks zeigt im Gefüge der Integration spürbare Konsequenzen. In der Europapolitik hat ein Szenenwechsel stattgefunden: Maßgebliche Akteure kalkulieren ihre Interessen als Staaten, während die Bedeutung der Gemeinschaftsinstitutionen zurückgeht. An der Schwelle zur Neuordnung Europas kehrt die Geschichte des Kontinents zurück. Nie in der Zeit seit den fünfziger Jahren war das Maß supranationaler Integration größer als heute und doch war die Idee Europas, die Vorstellung von der gemeinsamen Zukunft zu keiner Zeit diffuser als zum Ende dieses Jahrhunderts. Eine nationale Reserve gegenüber der Integration summiert sich im Trend zur Renationalisierung und Entsolidarisierung, die alle europäischen Strukturen in den letzten Jahren aufweisen - ihr Bestand, ihre Idee und ihre Friedensleistung könnte zum Kapitel im europäischen Geschichtsbuch absinken, zu einem historischen Reflex, gebunden an die Herausforderung durch den Ost-West-Konflikt.

Ein Raum beispielloser Möglichkeiten

Die kommenden zehn Jahre setzen den Schlußstein in das Gewölbe der Integration; was bisher als ferne Zukunft und abstraktes Zielbild der Gemeinschaftsbildung vage beschrieben blieb, wird übermorgen zur politischen Entscheidung anstehen. Zwei Projekte stehen symbolhaft für die künftigen Möglichkeiten der Integration: die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Vollendung der territorialen Einheit Europas. Beide präzisieren die früher vage Vorstellung von der Finalität des Integrationsprozesses. Europas politische Einheit wird nicht aus der Macht und aus der Abwehr äußerer Gefahren entstehen, sondern aus dem Markt und aus der Neugestaltung des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells in einer globalisierten Weltwirtschaft. Europas territoriale Reichweite entscheidet sich nicht imperial, sondern wird Ergebnis einer freiwilligen normativen Übereinstimmung sein - sie umfaßt diejenigen europäischen Demokratien, die bereit und in der Lage sind, sich einem offenen gemeinsamen Markt anzuschließen, gemeinsame Werte, Normen und Standards zu teilen und ohne nationale Vorbehalte im politischen System des europäischen Staatenverbunds mitzuwirken. Beide Projekte enthalten zugleich Belastungsproben für das System der Integration und den Zusammenhalt seiner Mitglieder - diese Lasten produktiv in einen Systemwandel umzusetzen, könnte zur Triebfeder weiterer Integration werden.

I. Die Rekonstruktion europäischer Solidarität

Die Integration Europas hat seit ihren Anfängen stets mehr im Sinn gehabt als die reine Maximierung des Nutzens ihrer Mitglieder. Die Europäische Union verbindet wirtschaftlichen Aufschwung, politische Stabilität mit Strukturen des Interessenausgleichs in produktiver Weise. Zum Grundgedanken dieser Schicksalsgemeinschaft gehört das Konzept europäischer Solidarität, das heute in vielen Facetten der Politik und der Institutionen der Europäischen Union verankert ist und die Identität der Europäer prägt. Integration wurde zum Überlebensrezept des in vielen Staaten organisierten alten Kontinents angesichts der Globalisierung zuerst der Sicherheit, dann der Warenströme, der Kapitalmärkte und schließlich, heute, der Produktion und der Dienstleistungen. Integration wirkte in diesem Sinne identitätsbewahrend für die Nationen und identitätsfördernd für zahlreiche Regionen innerhalb der heutigen Europäischen Union. Auf europäischer Ebene hat sich bisher kein vergleichbares Maß an Identität herausgebildet - zum Teil deswegen, weil sich die Europäer in diesem Rahmen zumeist als Bürger eines Staates oder Angehörige einer Nation oder Region wahrnehmen und die unmittelbare Erfahrung des Nicht-Europäischen den meisten Menschen nicht zugänglich ist. Europäische Identität ist dagegen überall dort als zusätzliche Schicht der Selbstbeschreibung der Menschen anzutreffen, wo die Wirkungen innergemeinschaftlicher Solidarität am sichtbarsten werden: in den Entwicklungs- und Infrastrukturprojekten der europäischen Fonds wie in den Unterstützungsprogrammen für die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas.

Das Risiko des Solidarbruchs

Im doppelten Systemwandel, der aus der Einführung der gemeinsamen Währung und aus der Transformation Mittel- und Osteuropas entsteht, wird eine Neubestimmung des europäischen Solidarkonzepts erforderlich werden, um die neue Gewichtung von Leistungsfähigkeit und Bedürfnissen, von Interessen und Zielen europapolitisch zu verarbeiten. Die einfache Verlängerung der bisherigen Solidarstrukturen und ihrer Entscheidungsverfahren wird an der Frustration der Nettozahler und der Konkurrenz der Empfängerregionen scheitern. Gelingt kein Ausgleich, so wird die Solidargemeinschaft der Europäer erodieren; Europa wird in kleine Solidarräume zerfallen und einen Hauptbestandteil seiner Identität in Frage stellen. Das Risiko eines Solidarbruchs und der Identitätskrise erfordert mehr als die Reform von Politiken und Finanzausstattung nach dem Muster gradueller Anpassungen. Schon heute, vor der tatsächlichen Einführung der gemeinsamen Währung und vor dem tatsächlichen Beitritt weiterer Staaten weist das Solidargefüge Europas Risse auf: Die Konfliktlinien zwischen Nettozahlern und Empfängern scheinen schärfer gezogen als in früheren Phasen, die Beschäftigungskrise verstärkt die Binnenorientierung der einzelstaatlichen Politik, die oft geringe Effizienz des Mitteleinsatzes in den Strukturfonds belastet das Verhältnis unter den Mitgliedstaaten ebenso wie die Anpassungserfordernisse in der Vorbereitung auf die Währungsunion. Über allem hängt die Vorahnung künftiger Konflikte: im Wettbewerbseffekt und angesichts der Kostentransparenz des Euro genauso wie in der Konkurrenz um Marktanteile, Standorte und Subventionen im Prozeß der Erweiterung. Je grundsätzlicher die bisherigen Politiken, Programm und Verfahren zu überdenken sind, desto grundsätzlicher wird auch die Neukonzeption des Solidargedankens in der Europäischen Union ausfallen müssen.

Die Währungsunion als Paradigmenwechsel

Der Euro markiert einen Qualitätssprung in der wirtschaftlichen und politischen Verflechtung. Seine Einführung schafft Preis- und Leistungstransparenz nicht nur für Wirtschaft, Handel und Dienstleistungen, sondern auch für den öffentlichen Sektor. Übertriebene Größe, Ineffizienz und Schuldenfinanzierung des Staates werden zu Standortnachteilen im europäischen Währungsraum. Das Austarieren wirtschaftlicher Unterschiede durch Wechselkursänderungen, durch eigene Geldpolitik und eigene Inflationsrate entfällt. In Amerika, einem vergleichbar großen Währungsraum mit wirtschaftlicher Heterogenität, vollziehen sich solche Anpassungen durch Lohnflexibilität und hohe Mobilität der Arbeitnehmer. In diese Richtung wird auch Europa gedrängt werden - aber nur einen Teil der Wegstrecke zurücklegen. Wirtschaft und Öffentlichkeit in Europa werden Ergebnisse und Qualität nationaler Wirtschafts- und Haushaltspolitik vergleichen und Korrekturen einfordern; bleiben sie aus, so wandern Unternehmensstandorte und Wähler. Die neue Währung wird so zum Zielpunkt der Verteilungskonflikte, zum Magneten politischen Handelns und zum Kitt kontinentaler Kräfte. Sie könnte europaweit einen großen Finanzausgleich erzwingen und damit Konflikte von neuer Intensität auslösen. Dieser Ausgleich von Gewinnen und Lasten in der Währungsunion wird nicht hinreichen, alle Schwächen und Versäumnisse nationaler Politik zu kurieren. Er kann kein Ersatz für eigene Anstrengungen sein, denn Solidarität in Europa hat ohne faire Lastenteilung keine Zukunft.
Der Euro schafft die wirkliche europäische Existenzgemeinschaft ohne Drohung von außen. Seine Verwirklichung wird die bestehende Verflechtung weiter intensivieren; neuer politischer Handlungsbedarf entsteht. Die Integrationsspirale dreht sich weiter - von der Integration zentraler Politikfelder mit besonderen fiskalpolitischen Implikationen, soweit sie im Unionsrahmen sachlich besser und geldpolitisch stabilitätssichernd betrieben werden können, bis zur Abstimmung nationaler Reformpakete im Bereich der sozialen Sicherungssysteme.
Zur Grundsatzfrage wird daneben die Stärkung der Legitimation der Europäischen Union. Nach dem Modell der Bundesbank und anderer Zentralbanken entsteht die Legitimität der Entscheidungen des Europäischen Zentralbankrats vor allem aus dem Ergebnis seiner Handlungen. Die disziplinierende Wirkung der Maastricht-Kriterien bildet in diesem Sinn erst ein Grundkapital an Legitimation. Die Zentralbank bedarf in den ersten Jahren ihres Bestehens des Vertrauensschutzes durch die Politik, d.h. die europäischen politischen Gremien müssen den Handlungsspielraum der Zentralbank verteidigen und sich in der Kommentierung der Geldpolitik selbst beschränken, solange die EZB noch über eine nur schwache ergebnisgestützte Legitimation verfügt. Dazu benötigt die Europapolitik ihrerseits eine starke Legitimations- und Akzeptanzbasis.
So verstanden, eröffnet der Paradigmenwechsel durch den Euro eine neue Chance, die Identität der Europäer zu stärken. Der Euro wird zur Münze der Identität, er ist das friedliche Bindemittel. Das Geld ist die ebenso symbolische wie alltäglich-praktische Bindung, die künftig das Aufeinander-Angewiesensein der Europäer sinnfällig erfahren lassen kann. Europa wird im Bewußtsein vieler dort sein, wo mit derselben Münze gezahlt werden wird; und die Verhältnisse in diesem Raum werden zum Teil der eigenen Lagebeurteilung. Krisenhafte Entwicklungen in räumlich weiter entfernt liegenden Regionen der EU werden direkter und dringlicher wahrgenommen werden; alle Teil eines gemeinsamen Währungsraums beeinflussen die Stabilität des Ganzen und damit die eigene Währung.

Die Osterweiterung als Systemwandel

Mit der Öffnung der Europäischen Union nach Osten behaupten die Europäer die normative Prämisse ihrer Integration - kein Club der historisch und wirtschaftlich Begünstigten sein zu wollen, sondern eine Gemeinschaft aller Europäer. Diese Erweiterung präzisiert die geographische Reichweite der Europäischen Union. Die heutige Union der 15 wird sich in Stufen auf 25 Mitglieder und mehr vergrößern. Darüber hinaus wird sich die Europäische Union mit zwei spezifischen Fragestellungen auseinandersetzen müssen: einerseits mit dem Szenario einer Enklave innerhalb einer erweiterten EU, die im Fall der Krise und des Scheiterns der Transformation im ehemaligen Jugoslawien entstünde, andererseits mit der Rolle und Ausrichtung der Ukraine.
Von entscheidender Bedeutung für das künftige Gefüge des großen Europa ist die Rolle der Türkei. Nach wie vor bildet die Europaorientierung einen festen Bestandteil der türkischen Außenpolitik. Mit der Herstellung der Zollunion vollzieht das Land einen wichtigen europapolitischen Schritt, der die Verflechtung der Wirtschaft mit der EU weiter vergrößern wird. Die türkische Beitrittsoption ist zudem kaum weniger verbindlich als die der ostmitteleuropäischen Reformstaaten. Die europäische Politik hat diese Annäherung bisher eher hinhaltend begleitet und versäumt, die Partnerschaft mit der Türkei nach Ende der Dominanz der Sicherheits- und Verteidigungspolitik strategisch neu zu bestimmen. Nun muß die Europäische Union muß entscheiden, welche Rolle sie der Türkei zuordnen will:

die des Beitrittskandidaten; dann wäre die Entwicklung der Beziehungen primär an der Erfüllung der Beitrittskriterien zu orientieren und die EU-Politik müßte konsequenter als bisher die Anbindung der Türkei fordern und fördern;

die des regionalen Stabilitätsankers; dann müßte die Unterstützung ihres Modernisierungsprozesses und der Fähigkeit der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik, Stabilität und Sicherheit in das eigene Umfeld zu projezieren, im Vordergrund stehen;

die des Ankers mit Europa-Perspektive; dazu wäre die Entwicklung einer privilegierten Partnerschaft auf strategischer Ebene bei gleichzeitiger Betonung der innenpolitischen Beitrittsvoraussetzungen, damit das Ziel eines späteren Beitritts glaubwürdig und handlungsleitend bleibt.

In dieser Rollenzuschreibung wird die EU zwischen den Folgen für die außenpolitische Orientierung der Türkei und den Wirkungen auf ihr inneres Gefüges, zwischen dem Integrationsinteresse Europas und seiner Erweiterungsfähigkeit abwägen müssen. Die bisher gepflegte Haltung der Indifferenz wirkt in keiner der drei skizzierten Richtungen konstruktiv.

Herausforderungen der Erweiterung

In den Perspektiven von Euro und Osterweiterung liegen historische Chancen, aber auch beträchtliche Risiken in einem komplizierten Geflecht von Interessenlagen, Konstellationen und Entwicklungslinien nebeneinander:
Das große Europa wird zur Initialzündung von wirtschaftlicher Modernisierung und gesamteuropäischer Wohlstandssicherung werden - wenn es gelingt, die Märkte konsequent zu öffnen, den Binnenmarkt ungeschmälert zu bewahren, Verteilungskonflikte im Rahmen der EU wirksam zu regeln und protektionistische Tendenzen zurückzudrängen.

Das große Europa wird das Friedensmodell für Gesamteuropa bilden, in dem alle Staaten das gleiche Maß an Sicherheit haben - wenn es gelingt, die zahlreichen Minderheitenkonflikte vor der Erweiterung verbindlich zu regeln, wirksame Instrumente der Konfliktprävention zu entwickeln und die Sicherheitsleistung der EU zu verbessern.

Das große Europa wird zum Schlüsselinstrument gemeinsamer Problemlösung werden - wenn es gelingt, die Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken, die Balance unter den Mitgliedstaaten, zwischen Groß und Klein, Reich und Arm zu erneuern und Handlungsräume für diejenigen Staaten zu schaffen, die eine größere Dichte der Integration verwirklichen wollen.

Das große Europa wird die Vitalität europäischer Nationen und die kreative Vielfalt seiner Kulturen bewahren - wenn es gelingt, die Prinzipien von Nation und Integration, die ethnischen, regionalen, nationalen und europäischen Bezüge der Menschen als komplementäre Schichten der Identität der Bürger Europas zu vermitteln.

Das Solidargefüge Europas auf diesen Raum hin zu rekonstruieren, bedeutet grundlegende Reformen in Politik und Struktur der Europäischen Union zu kalkulieren. Nur unter solchen Vorzeichen wird sich der Nutzen der Erweiterung auch für die heutigen EU-Staaten einstellen: die Gewinne aus einer optimierten Arbeitsteilung, der Zugewinn an Stabilität und Sicherheit, die Bereitschaft ostmitteleuropäischer Staaten, aktiv an Friedenssicherung und "peace keeping" teilzunehmen sowie - nicht zuletzt - die Bekräftigung der Identität der Europäer und der damit verbundene Legitimationszuwachs für das politische System der Europäischen Union. Europa braucht einen "new deal", eine neue Vereinbarung über die Einnahmen und Ausgaben, über Transfers und die Transfergestaltung, um sich als Solidargemeinschaft zu behaupten. Der Ansatz der "Agenda 2000" ist der Versuch einer Reform innerhalb der geltenden Parameter. Das Konzept will, eher taktisch orientiert, der Erweiterungsdebatte die Schärfe einer reinen Fixierung auf ihre Kosten nehmen, aber es vermeidet die langfristigen Strategiefragen und löst die Grundsatzprobleme nicht auf.

Die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union

Zielperspektive der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik müßte vielmehr ein Binnenmarkt für Agrarprodukte sein, in dem die Wettbewerbsvorteile der Produktionsstandorte zur Geltung kommen könnten. Daraus entstehen dezentrale Wachstumsimpulse, die sowohl für die künftigen Mitglieder als auch für strukturschwache Gebiete der heutigen EU mit günstiger Faktorausstattung attraktiv sind. Es wäre belastend für den Zusammenhalt der EU und wirtschaftlich unrentabel, wenn die Reformwirtschaften Mittel- und Osteuropas die Modernisierung ihrer Landwirtschaft im Blick auf ihre Mitgliedschaft an den Rahmenbedingungen des bestehenden Subventionssystems ausrichten würden.
Ebenso unumgänglich ist eine Reform der Strukturpolitik der EU. Selbst das Pro-Kopf-Einkommen der Vorreiterstaaten Polen und Ungarn liegt immer noch bei rund der Hälfte der beiden ärmsten EU-Mitglieder Griechenland und Portugal. Das gesamte Sozialprodukt der zehn assoziierten Staaten macht derzeit nur drei Prozent desjenigen der heutigen EU aus. Selbst im Jahr 2005 wird das Bruttoinlandsprodukt in Ostmitteleuropa deshalb voraussichtlich nur 40 Prozent des EU-Durchschnitts erreichen. Bei Aufrechterhaltung der jetzigen Strukturpolitik käme auf die EU eine Kostenbelastung zu, die keiner der Mitgliedstaaten zu tragen bereit wäre. Zwar wird die Erweiterung nicht kostenneutral bleiben können, doch sollten die Fonds konsequent nach den Kriterien der Bedürftigkeit und der Effizienz des Mitteleinsatzes reformiert werden. Geeignete Ansatzpunkte der Reform über den Rahmen der Agenda 2000 hinaus wären die Überprüfung der Qualifikationsschwelle von derzeit 75 Prozent des durchschnittlichen gemeinschaftlichen Bruttoinlandsprodukts, eine Erhöhung der nationalen Finanzierungsanteile in Projekten der Strukturförderung oder auch die Einsetzung von regionalen Entwicklungsagenturen, die anstelle ineffizienter Zentralverwaltungen die Konzeption und Durchführung von Projekten übernehmen könnten.
Eine grundlegende Reform der Gemeinsamen Agrar- und Strukturpolitik verringert nicht nur die Effizienz- und Kostenproblematik in beiden Politikbereichen. Sie entschärft auch die Debatte um die finanzielle Benachteiligung einzelner Unionsmitglieder. Dagegen weist die in die Diskussion eingebrachte Einführung von Korrekturmechanismen zur Angleichung der Nettosalden in die falsche Richtung. Dies würde zu einer weiteren Umschichtung der Subventionsmasse führen und den dringend notwendigen Reformdruck von den Gemeinschaftspolitiken nehmen.

Die Bewahrung der Regierbarkeit

Diese in der Erweiterungsfähigkeit entstehenden Verteilungsfragen sind ebenso Machtfragen wie die Ausrichtung und Anpassung des institutionellen Rahmens, innerhalb dessen sich das Potential und die Ambitionen der Mitgliedstaaten in Entscheidungsmacht umsetzen.
Im Falle einer Erweiterung um sechs Staaten der ersten Verhandlungsrunde - Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern - würden nach den heutigen Regeln die großen Mitgliedstaaten - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien - über rund 77 Prozent der Bevölkerung der EU, aber nur 50 Prozent der Stimmen im Rat verfügen. Vor allem aber würde sich das Blockadepotential im Rat erhöhen, da dort noch immer die Fragen, bei denen es um Geld (Agrar- und Strukturpolitik, Finanzverfassung) und Macht (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Justiz- und Innenpolitik) geht, einstimmig entschieden werden müssen.
Zugleich würde die Anzahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament die im Amsterdamer Vertrag festgelegte Obergrenze von 700 Mitgliedern überschreiten. Eine Erweiterung um die fünf MOE-Beitrittskandidaten und Zypern hebt die Anzahl der Parlamentarier bereits auf 763 an. Ebenso würde die Zahl der Mitglieder der EU-Kommission entsprechend ansteigen. Zwar legt der Vertrag von Amsterdam fest, daß im Zuge der Erweiterung die Kommission durch einen Verzicht der großen Mitgliedstaaten auf ihren zweiten Kommissar auf 20 Kommissare beschränkt werden soll, doch wird bereits mit sechs Beitritten auch diese Vorausfestlegung überholt.

Kernelemente der Reform

Die Europäische Union benötigt deshalb eine Reform ihres Regierungssystems, die die bestehenden Defizite abbaut und die EU auf die Erweiterung vorbereitet, ohne daß jede Erweiterungsrunde eine neue Austarierung der Machtbalance und der Zusammensetzung der Institutionen nötig macht.
Im Rat muß daher eine Anpassung der Stimmgewichte an das relative Gewicht der einzelnen Mitgliedstaaten erfolgen, damit sich Mehrheiten sachorientiert bilden können, ohne daß die großen Mitgliedstaaten zu übermächtig oder die kleinen marginalisiert werden. Bis auf konstitutionelle und für die Mitgliedstaaten existentielle Fragen - Vertragsrevisionen, neue Institutionen und Mitgliedstaaten der EU, Eigenmittel der EU - sollten zur Erhöhung der Effizienz und damit der Output-Legitimation alle Politikbereiche in die Mehrheitsentscheidung überführt werden.
Das Europäische Parlament muß eine weitgehend proportionale Repräsentation der in der Union verbundenen Bürger übernehmen. Es ist eine Formel notwendig, die unabhängig von der jeweiligen Mitgliederzahl die Obergrenze von 700 Parlamentariern wahrt. Diesen Anspruch erfüllt eine Verteilung, nach der für je 750.000 Bürger ein Sitz im Parlament vergeben wird. Im Sinne des Minderheitenschutzes sind dazu lediglich Mindestsitze für sehr kleine Staaten festzusetzen.
Die konsequenteste Umsetzung des Reformbedarfs der Europäischen Kommission bietet noch immer der auch von Frankreich vertretene Vorschlag, die Zahl der Kommissare nach der Zahl der Ressorts zu bemessen. In einem solchen Ansatz sollte der Kommissionspräsident frei sein, seine Kommission aus Vorschlägen aus den Mitgliedstaaten zusammen zu stellen. Die regionale und nationale Vertretung zu balancieren, bliebe seinem politischen Spürgefühl überlassen. Unter dieser Prämisse wäre dann ein Initiativrecht für Kommission, Rat und Parlament anstelle des heutigen Monopols der Europäischen Kommission vorzusehen.

II. Europas neue Nachbarschaften

Die Bewahrung von Entwicklung, Stabilität und Frieden in der direkten Nachbarschaft der großen Europäischen Union zählt zu den schwierigsten außenpolitischen Herausforderungen der europäischen Politik. Die Europäer müssen abwägen zwischen Integration oder Kooperation, zwischen der Abwehr von Risiken oder dem Versuch zur Steuerung von Transformation. Selbst dort, wo Nachbarstaaten auf längere Sicht die Chance zur Integration offen bleiben soll, stellt sich die Frage, ob eine Konzentration auf die Kriterien der Beitrittsfähigkeit in jedem Fall die richtige Grundlage der Partnerschaft bildet.
Es gehört zu den Grundaussagen europäischer Politik, daß nach der Auflösung der Scheidelinie zwischen den Blöcken keine neue Trennlinien auf dem Kontinent gezogen werden sollen. Unterschiede sind jedoch unvermeidlich, solange die Mitgliedschaft in der EU einen Unterschied macht: für die Entwicklungschancen, für die Beteiligungsrechte und für das Maß an Solidarität, daß Mitglieder der europäischen Integration erfahren. Solche Trennlinien werden zwischen den künftigen Mitgliedern und ihren nicht-integrierten Nachbarn im Osten und Südosten Europas entstehen; sie bestehen bereits im Süden der EU, zwischen Europa und Nordafrika.
Eine Strategie der Abschottung scheidet für Europa aus - zu vielfältig sind die Bezüge und Wechselbeziehungen, zu lang und zu offen sind die geographischen Grenzräume der Europäischen Union nach Süden und nach Osten. Jenseits der Grenzen liegen Verbündete in NATO und WEU, Handelspartner und Stabilitätsanker, wie Israel, Marokko und die Türkei, sowie strategisch bedeutsame Nachbarn, wie Rußland und die Ukraine. Im mehrstufigen Prozeß der Erweiterung nach Osten wird es dazu Nachbarschaften im Übergang geben, deren Anbindung an die EU nicht durch Abgrenzung erschwert werden soll: Die Integration der Tschechischen Republik wird beispielsweise die junge und wenig organisierte tschechisch-slowakische Grenze zur EU-Außengrenze machen.
Auf diese Entscheidungskonflikte kann die europäische Politik nur mit einer aktiven Politik der direkten Nachbarschaft angemessen reagieren. Dies setzt zunächst "strategische Aufmerksamkeit" auf der Seite der EU-Institutionen voraus, denn viele der Problemfelder der direkten Nachbarschaft - das Wohlstandsgefälle, die unzureichende Infrastruktur, Handelskonflikte, die Grenzsicherung gegen illegale Einwanderung oder organisierte Kriminalität, Umwelt- und Minderheitenfragen - überfordern die Regelungskapazität der künftigen Anliegerstaaten auf EU-Seite. In einem zweiten Schritt benötigt Nachbarschaftspolitik gezielt einsetzbare Instrumente; von der Vorneverlagerung der Modelle grenzüberschreitender Zusammenarbeit bis zur europäischen Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik.
Ein Schlüsselproblem der Nachbarschaftspolitik sind die zahlreichen Minderheitenkonflikte in der Nachbarschaft Europas. Sie fordern die EU heraus, aktiv zur Konfliktregelung beizutragen. Ohne eine Regelung können diese Konflikte explosiv eskalieren, wie an der Entwicklung des Kosovo abzulesen ist. Die europäische Nachbarschaftsstrategie benötigt deshalb ein Anreizprogramm zur Aushandlung zukunftsfähiger Regelungen für Minderheitenkonflikte.
Als dritten Baustein einer Strategie direkter Nachbarschaft benötigen die Europäer schließlich die Fähigkeit zur Friedenswahrung. Der Krieg um Bosnien-Herzegowina hat die Annahme widerlegt, Konflikte seien durch die Isolierung und Erschöpfung der Kriegsparteien regelbar: Die wirtschaftlichen und demographischen Außenwirkungen auf Europa und die anhaltende Vergiftung der politischen Kultur sind angesichts der Nähe der Konfliktregion und der Dichte der Verflechtung europapolitisch nicht zu neutralisieren. Die Defizite im Wiederaufbau in Bosnien, in der Reintegration der Flüchtlinge wie die Schwächen in der demokratischen Transformation in Bosnien, in Serbien wie in Kroatien belegen die Notwendigkeit präventiver Schritte, militärischer Abschreckung und, im Krisenfall, der Durchsetzung des Friedens. Das größte Risiko für eine Eskalation und damit die wichtigste Herausforderung an die Handlungsfähigkeit der Europäer im präventiven Sinn bildet in den kommenden Jahren die instabile Konstellation in der heutigen Bundesrepublik Jugoslawien: Die Zuspitzung des Konflikts zwischen Serben und Kosovo-Albanern zerstört nicht nur die Bemühungen um die Aushandlung eines neuen Status der Autonomie für das Kosovo, sondern bedroht auch die labile Balance der Machtteilung zwischen Serbien und Montenegro, und sie könnte zum Sprengsatz für Integrität und Entwicklung Mazedoniens werden.
Da der Vertrag von Amsterdam noch keine "Koalitionen der Handlungswilligen" unterstützt, ist eine rasche und konfliktsensible Reaktion erforderlich, die es den handlungswilligen Staaten erlaubt, ihre Mitgliedschaft in NATO und WEU zur Konfliktbeendigung und Friedensschaffung einzusetzen.
Möglichkeiten und Grenzen der Prävention
Die Risiken und ihre Eskalationsdynamik jenseits der künftigen Grenzen sind durch die heutige Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten nicht beherrschbar. Für eine wirksame Steuerung des Systemwandels würden die vorhandenen Mittel nur unter günstigen Rahmenbedingungen und hoher Transformationsbereitschaft auf Seiten der Partnerstaaten ausreichen: Die russische Entwicklung wird weder durch ein Partnerschaftsabkommen mit der EU noch durch den NATO-Rußland-Rat entscheidend beeinflußt. Im Fall der Ukraine überwiegen die deklaratorischen Elemente westlicher Stabilisierungspolitik. Die Programme zur Stabilisierung und Transformation Nordafrikas wie des Nahen Ostens können den Wandel allenfalls unterstützen, aber nicht tragen, wie die Erfahrungen aus dem Barcelona-Prozeß deutlich machen. In Nordafrika müßte beispielsweise jährlich etwa eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen werden, damit sich die heutige, unzureichende Beschäftigungslage nicht weiter verschlechtert.
Vor diesem Hintergrund besitzen Entwicklungsinterventionen der europäischen Politik zur Risikokontrolle aus zwei Gründen kaum erfolgversprechende Perspektiven: einerseits aufgrund der politisch-kulturellen Distanz zwischen Europa und seiner Nachbarschaft, die eine aktive Einwirkung von außen - ungeachtet der zentralen Rolle Europas als Markt, Finanzierungs- und Entwicklungspartner - als Bevormundung erschienen ließe. Andererseits ließen sich die dazu erforderlichen Transferleistungen in den pluralistischen Gesellschaften Europas politisch nicht überzeugend begründen. Die Erfahrungen aus der Transformation Mittel- und Osteuropas zeigen, daß die Kosten präventiven Handelns ohne den Druck eines unmittelbar drohenden Konflikts kaum jemals gegen die möglichen Lasten des Nichthandelns aufzurechnen sind. Eine europäische Politik der Risikokontrolle kann daher nur in drei Richtungen agieren: Sie sollte ihre wirtschaftliche Attraktivität als Anreiz und Belohnung in den Dienst präventiver Diplomatie stellen, sie muß die militärische Dimension dieser Risiken über eine entsprechende Ausrichtung von NATO, WEU und ergänzenden bi- und multilateralen Strukturen absichern, und sie könnte über ein Gesamtkonzept direkter Nachbarschaft die nötige innenpolitische Akzeptanz für die materielle Ausstattung ihrer Friedens-, Stabilitäts- und Entwicklungsziele bewahren.

III. Europa - Weltmacht im Wartestand

Ein anderes Europa agiert heute in einer anderen Welt: Die politisch-strategische Nische, in der sich die Integration im Windschatten der Nachkriegsallianzen entwickeln konnte, existiert nicht mehr. Diese Welt ist kein Spielplatz für Zivilmächte; ihre Gefahren sind nicht einmal allein mit den zweifellos gewichtigen Instrumenten des "Handelsstaates" beherrschbar. Die alte Frage nach der weltpolitischen Identität der Europäer stellt sich neu.
Im Vergleich zu anderen Großstaaten kommt das Potential der Europäischen Union dem der Weltmacht USA am nächsten. Die Europäische Union ist, zusammen gesehen mit der zur Sicherheits- und Verteidigungsagentur bestimmten Westeuropäischen Union wie mit dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gewicht ihrer Mitglieder, weit mehr als eine Regionalmacht. Sie ist Magnet und treibende Kraft in der weltpolitisch bedeutsamen Neuordnung der sowjetischen Hinterlassenschaft; die Agenda der Nachbarschaftspolitik der EU umfaßt Herausforderungen und Akteure von weltpolitischer Brisanz. Die globale Rolle Europas wird künftig durch den Weltmachtfaktor Euro verstärkt werden. Die europäische Währung wird neben dem Dollar zur großen Weltreservewährung, zur Handelswährung und zur internationalen Anlagewährung. Ein neues bipolares, europäisch-amerikanisch dominiertes Weltwährungssystem wird das alte Dollar-geprägte Währungsgefüge ablösen. Der Euro wird einen immensen Druck auf Europa ausüben, diese neue Weltmachtqualität anzunehmen. Die Schwäche der Europäer liegt jedoch bisher in der Lücke zwischen Potential und politischer Infrastruktur, in der wirksamen Bündelung der politischen Energie und im fehlenden Denken in weltpolitischen Kategorien. In dieser Kombination von Potental und Schwäche erscheint Europa als eine "Weltmacht im Wartestand", deren Möglichkeiten erst durch spezifische Konstellationen aktiviert werden werden.
Handelspolitik kann die EU zu 15 plus X betreiben, Weltpolitik dagegen wird eine Konzentration nach dem Muster der differenzierten Integration erfordern. Der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU fehlt das Potential und der politische Wille eines Kerns von Mitgliedstaaten, die das nötige strategische Momentum in die intergouvernementale Konstruktion der GASP einbringen könnten. Die Westeuropäische Union ist bereits zu groß und strategisch zu diffus, um einen solchen "Caucus" bilden zu können; die verschiedenen bi- und multilateralen Integrationsinitiativen (wie das Eurokorps) sind andererseits zu klein und in ihrer Aufgabenstellung zu instrumentell, um Ausgangspunkt der Differenzierung zu sein. In Krisen hängt Europa ab vom Willen und der Fähigkeit einzelner Staaten, gemeinsam zu handeln, und von ihrer Bereitschaft, sich die strategischen Herausforderungen der europäischen Politik zu eigen zu machen. Gelingt es, das Potential, die Interessen und die Ambitionen dieser Staaten zu einer funktionsfähigen Gemeinsamkeit zusammenzuführen, so könnte daraus ein Antriebsimpuls für die fehlende Willensbildung im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik entstehen.

Europas Partnerschaft mit Amerika

Der eigentliche Bewährungsfall für ein künftiges weltpolitisches Profil liegt jedoch in der Gestaltung der deklaratorisch so oft beschworenen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Ohne die Intensivierung transtatlantischer Partnerschaft besteht die Gefahr der Stagnation und des Zauderns in der Vollendung der Einigung Europas angesichts der Risiken, die in ihr liegen. Die europäische Politik braucht die Zuversicht Amerikas in die Realisierbarkeit großer Ziele. Umgekehrt kann die Bedeutung Europas für die Vereinigten Staaten von Amerika nicht in der Sekundierung amerikanischer Weltpolitik liegen. Die USA brauchen Europa als eine Weltmacht, die trotz ihrer kulturellen, historischen und politischen Vielfalt zur Vertretung ihrer Interessen und Bündelung ihrer Ressourcen in der Lage ist. Europa und Amerika sind weltweit als die einzig verläßlichen Produzenten von Stabilität verblieben, deren Regelungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit künftig neu gefordert werden wird, gerade auch in Regionen und auf Feldern, die jenseits der bisherigen Strukturen transatlantischer Kooperation liegen. Die Teilung von Lasten und Verantwortung, die Partnerschaft unter Gleichen, ist Voraussetzung künftiger Gemeinschaftsbildung.
Ohne die Entwicklung sichtbarer Verteidigungsfähigkeit wird es den Europäern nicht gelingen, die Vereinigten Staaten von dieser Erweiterung ihrer Bündnisverpflichtung im Rahmen der NATO zu überzeugen. Die Europäische Union, insbesondere die Vollmitglieder der WEU, müssen die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Schutz westlicher Interessen und zu gemeinsamem Handeln mit den Vereinigten Staaten außerhalb Europas aufbringen. Dazu ist ein differenziertes Sicherheitskonzept erforderlich, das die Sicherheitsleistung der Europäischen Union und der ihr zugeordneten Westeuropäischen Union berücksichtigt, die bi- und multilateralen Formen der Verteidigungsintegration zuordnet, Europas Verantwortung für die eigene Territorialverteidigung sichtbar macht und die Entwicklung europäischer Krisenreaktionskräfte beinhaltet.
Das Potential der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen verlangt angesichts der Wachstums- wie der Krisendynamik in Ost- und Südostasien nach neuen Regelungsmechanismen. Die Entwicklung eines transatlantischen Gemeinsamen Marktes ist überfällig. Zwar unterliegt bereits der größte Teil des wechselseitigen Handels keinen Beschränkungen mehr, doch bleiben wichtige Ausnahmen und nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Amerikaner und Europäer sollten sich deshalb auf eine Liberalisierungsinitiative verständigen, mit der sie die WTO-Entwicklung vorantreiben, eine gemeinsame Basis für die Folgefragen der Marktöffnung schaffen, die Entwicklung internationaler Standards vorbereiten und die "essentials" ihrer wirtschaftlichen Ordnungspolitik abstimmen. Sie wäre ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem transatlantischen Binnenmarkt, in dem Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen frei verkehren.

IV. Europa neu verhandeln

Europas Politik benötigt Zukunftsorientierung. Die Vollendung und Ausgestaltung der Einheit des Kontinents in einer großen Europäischen Union stellt sich nicht von selbst ein: Die Auflösung seiner alten Konflikte, die Rekonstruktion europäischer Solidarität, die friedliche Entwicklung seiner Nachbarschaft und die Behauptung der Interessen Europas in der Welt von morgen erfordern politische Führung. Die künftige Europäische Union braucht den Handlungswillen und die Handlungsfähigkeit ihrer Mitglieder, um selbst handlungsfähig zu bleiben, sie braucht den Spielraum der Differenzierung, damit die unterschiedlich starken Ambitionen und Potentiale der Nationen zum Nutzen Europas eingesetzt werden können, und sie braucht die Öffnung ihrer Strukturen, so daß politische Führung europäische Aufgaben und Rollen finden kann.
Fallen die notwendigen Anpassungen unzureichend und unsystematisch aus, so wird diese Union auf lange Zeit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben - zu Lasten der Interessen ihrer Mitglieder. Schon heute ist erkennbar, daß der Vertrag von Amsterdam den Ansprüchen der großen Europäischen Union nicht entspricht. Eine neue Regierungskonferenz ist erforderlich, die Struktur und Politik der EU in diesen Grundsatzfragen modernisiert.
Die Vollendung der Währungsunion wird die Identität der Europäer stärken, die Erweiterung nach Osten wird ihre Grenzen testen. Wenn die Räume von Identität, Solidarität und politischer Entscheidung dauerhaft auseinanderfallen, dann entsteht die große Europäische Union nur als bürokratischer Entwurf. Dieses Europa wäre zu labil, um das Maß seiner Möglichkeiten zu vollenden. Die große politisch-kulturelle Aufgabe der Zukunftsorientierung wird es deshalb sein, die Zusammengehörigkeit der Europäer positiv erfahrbar zu machen.


   
           
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