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Neue Zürcher Zeitung vom 06.07.1998

Mehr oder weniger Europa?

Debatten über innere Gestaltung und äussere Beziehungen

Die künftige Gestaltung Europas im Innern wie in seinen Beziehungen zu direkten Nachbarn und zu andern Weltregionen ist auch nach dem Vertrag von Amsterdam und der Schaffung der Währungsunion kontrovers. Am sensibelsten erscheinen die Nachbarschaft zu Nichtmitgliedern der EU und die Zusammenarbeit mit den USA.

Bü. Berlin, 4.Juli 1998


Der deutsche Bundespräsident Herzog hat am Internationalen Bertelsmann-Forum, zu dem eine interessante Vorlage über das «Profil der grossen Europäischen Union» unter dem zu weit vorauseilenden Titel «Europa vor der Vollendung» vorlag, handfest für Reformen der EU und Konzentration auf wirklich gemeinsame Schwerpunkte plädiert. Dass sich in Brüssel zuweilen die Sünden der nationalen Bürokratien potenzieren, ist nicht nur am Beispiel der Richtlinien für Traktorsitze, Schnittblumen oder - neueste Forderung - Tierhaltung in Zoos bekannt geworden. Herzog erachtet sowohl institutionelle wie finanzielle Aufräumarbeiten für dringend; nationale Überregulierungen sollten nicht durch europäische Überregulierungen ersetzt werden, die nur von Spezialisten, nicht aber von den Bürgen verstanden würden. Da brauche es weniger Europa. Herzog plädiert wohl für Vertiefung und Erweiterung, vor allem aber für Verschlankung der EU, indem man Kompetenzen von nicht wirklich zentraler Bedeutung zurückverlagert und zugleich die wirtschaftliche Dynamik des Binnenmarktes als «Treibsatz für nationale Deregulierung» nutzt.

Bessere Qualität der Entscheide

Reformen im Innern sind für Herzog die Bedingung für gemeinsame Handlungsfähigkeit der Union in wichtigen Feldern, vor allem in der Aussenpolitik. Da brauche es «mehr Europa». Hier wie in andern wichtigen politischen Gebieten müsse man «wenigstens teilweise vom Einstimmigkeitsprinzip Abschied» nehmen. Darin stimmt Herzog mit Kommissionspräsident Santer überein. Aber er möchte vorderhand eine Stärkung europäischer Politik über eine Erhöhung der Qualität der gemeinsamen Entscheide und nicht über den ohnehin umstrittenen Ausbau des Parlaments oder via eine Verfassungsdebatte erreichen, welche beim jetzigen Zustand Europas nur eine Maus oder dann ein «eurokratisches Monster» gebären könnte. Bessere Qualität der Entscheide könnte beim Bürger mentale Barrieren abbauen, um schliesslich Europas reale Interessen auch gegen aussen wirksam wahrzunehmen. Wir könnten es uns nicht leisten, «dass europäische Aussenpolitik nichts weiter als eine Serie untauglicher Versuche mit untauglichen Mitteln wird», meint Herzog. Die Erfolge in der gemeinsamen Aussenhandelspolitik zeigten «dass in der globalisierten Umwelt die europäische Souveränität mehr wert sein kann als die nationale».

Santer stellte seinerseits fest, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten 60 Prozent der weltweiten Entwicklungshilfe und fast 80 Prozent der Finanzhilfe an die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zahlen, aber es dennoch die USA sind, «welche die erste politische Geige spielen». Auch wisse sechs Monate vor dem Start des Euro in der EU noch niemand, wer die einheitliche Währung nach aussen hin vertreten soll.

Wiederkehr der Geschichte?

Ein Teil der Debatten drehte sich um das geschichtliche Erbe im neuen Europa. Prof. Fritz Stern (New York) erinnerte an den einstigen Ostblock-Witz zur «dekretierten Geschichte», «Die Zukunft ist sicher, nur die Vergangenheit ist unsicher», um das Wiederauftauchen von geschichtlichen Kräften und Motiven zu analysieren, die in den Zeiten des Kommunismus unter eine ideologische Eisdecke gesperrt waren und jetzt nicht bloss auf dem Balkan konfliktuöse Situationen erzeugen und Europa zu deren politischen Bewältigung herausfordern. Überall muss heute Geschichte neu aufgearbeitet werden. Gemeinsamkeit, die Europa politisch trägt, bedingt auch eine gewiss schwierige Verständigung über durchlebte und durchlittene Geschichte und gemeinsame Anstrengungen zu ihrer Wertung. Stern erinnert daran, dass gerade auch permissive, multikulturelle Gesellschaften rasch in prohibitive Verhaltensweisen kippen und Nationalismus oder Fremdenfeindlichkeit gegen Werte der Aufklärung mobilisieren können. Der slowenische Präsident Milan Kucan forderte dazu auf, die Geschichte gemeinsam zu prüfen, die Fallen geschichtlicher Rückfälligkeit zu meiden und Begriffe wie Nationalstaat und Souveränität so neu zu denken, dass Europa als «Heimat aller Bürger» begriffen werden kann.

Europas Grenzen und neue Nachbarschaften
G.Jawlinskij, als Anführer der demokratischen Opposition Mitbewerber bei der letzten Präsidentenwahl, gab eine sehr kritische Analyse der wirtschaftlichen Situation in Russland, wo noch immer drei Viertel der wirtschaftlichen Transaktionen Tauschgeschäfte seien und das Steueraufkommen für die Schuldenverzinsung und -tilgung bei weitem nicht ausreiche. Im inzwischen etablierten «oligarchisch-halbkriminellen» Einflusssystem in der Politik erkennt er keine echte Bewegung hin zu Demokratie und zu einer zivilen Gesellschaft. In manchen GUS-Ländern sieht er faktisch Duplikate des alten Sowjetregimes am Werk. Jelzins früherer Regierungschef Tschernomyrdin habe diese Stagnation verkörpert; ein Rezept fürs Weiterkommen war weder von Jawlinskij noch von Weltbankdirektor Koch-Weser zu vernehmen. Letzterer unterstrich, dass eine neue Entschuldungsaktion ohne entschieden breitere Reform der wirtschaftlich-politischen Strukturen Russlands nicht sinnvoll sei. Von einigen osteuropäischen Politikern waren kritische Untertöne gegen die (zu) früh erfolgte Aufnahme Russlands in den Europarat zu hören.
Über die Selbstabgrenzung der Europäischen Union machen sich dagegen draussengebliebene Nachbarn Sorgen. Kein Gehör fand der orthodoxe Erzbischof von Raska und Prsiren, der sich über eine «Kurdisierung der Serben» durch Europa beklagte und erst auf scharfe Kritik hin bemerkte, dass «alle» unter Milosevic' Politik und Polizei zu leiden hätten; der Kirchenfürst regte eine Konferenz über gleiche Rechte der Minderheiten in diversen Ländern an.

Sorgen der Ukraine

Zu den bemerkenswerten Stimmen gehörten in Berlin neben dem polnischen Präsidenten Kwasniewski jene aus der Ukraine. V.Ogrysko, aussenpolitischer Leiter im Präsidialamt, erblickt im Dichtermachen der Grenzen gegen Nicht-EU- Länder eine ausgesprochen schlechte Entwicklung für ein Land, das in seiner Geschichte ein Jahrtausend lang von europäischen Perspektiven lebte. Der ukrainische Aussenminister Tarasjuk kritisierte den Begriff «Vollendung Europas» als weit verfrüht, unterstrich, dass sich sein Land selbst nicht als Randstaat Europas sieht, und hielt Westeuropa vor, es habe im kalten Krieg für gemeinsame Werte ganz Europas gekämpft, vergesse jetzt aber das Gemeinsame und grenze andere aus. Dabei teile die Ukraine, welche bewusst auf Atomwaffen verzichtet habe, europäische Werte, und sie bilde die Brücke zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer, zwischen Ländern, die wie die Ukraine zu Europa gehörten. Der deutsche Aussenminister Kinkel versprach darauf eine konstruktiv-durchlässige Handhabung der institutionellen EU-Aussengrenzen in der Perspektive einer späteren Assoziierung und plädierte für die Entwicklung einer «Kultur der nachbarschaftlichen, freundlichen Grenzen».

Verlegenheit um Kosovo

In Anwesenheit des türkischen Aussenministers Ismail Cem konstatierte Kinkel, die Türkei gehöre zu Europa und die Europäische Union sei keine Vereinigung christlicher Staaten. Man habe in Europa der Türkei unter den gleichen Kriterien wie für andere Staaten EU-Perspektiven zu öffnen. In der Kosovo-Frage kamen auf Grund der Stellungnahmen von Wolfgang Ischinger und Kinkel die deutschen und europäischen Verlegenheiten klar zum Vorschein; Kinkel formulierte ein momentanes Fünf-Punkte-Programm (mit verstärktem Monitoring und Schaffung eines regionalen Flüchtlingskonzepts) und appellierte an russische Vertreter, bei der allfälligen Einholung eines Uno-Mandats für militärische Interventionen nicht querzustehen. Tschernomyrdin bemerkte, Russland sei bereits «dabei», aber es seien noch nicht alle denkbaren Massnahmen vor einer Truppenintervention ausgeschöpft. In einer späteren, von Henry Kissinger geleiteten Debatte über die schwieriger werdenden transatlantischen Beziehungen wurde klar, dass auch die Amerikaner noch nicht über Rezepte zum Kosovo-Problem, geschweige denn über Interventionsbereitschaft verfügen.


   
           
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Aktualisiert am: 05.12.2002   Impressum | Design by [meteme.de]   Seite drucken | Seitenanfang