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Neue Zürcher Zeitung vom 10.07.1998

Euro und Erweiterung - die Zukunft der EU

Weltmachtpolitische Ambition auf wirtschaftlichem Fundament

Von Werner Weidenfeld


Die Europäische Union hat, was die wirtschaftliche Integration betrifft, eine dynamische Entwicklung vor sich. Auch die Aufnahme ostmitteleuropäischer und anderer Staaten kann wichtige Impulse geben. Der Autor ist der dezidierten Meinung, der Euro-Raum werde Europa in den Weltmachtstatus katapultieren, und begründet dies ausschliesslich mit wirtschaftlichen Argumenten.
Das neue Europa entsteht, ohne dass die Dynamik dieser Entwicklung bisher ausreichend zur Kenntnis genommen wird. Europa hat längst Abschied von der alten Ordnung genommen, und der Wandel hat das gesamte Gefüge des Kontinents erfasst. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes wurde prophezeit, dass die treibende Kraft der europäischen Integration verloren sei. Das Gegenteil ist der Fall. Noch nie zuvor wurden in so kurzer Zeit derart weit reichende Integrationsschritte unternommen, wie sie der Maastrichter und der Amsterdamer Vertrag mit sich bringen.

Münze der Identität

Ein neuer Höhepunkt wurde Anfang dieses Jahres mit der Entscheidung über die elf Teilnehmer am Beginn der dritten Stufe der Währungsunion und die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit zunächst sechs der elf Beitrittskandidaten gesetzt. Die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion schafft neue Entscheidungsmaterien, setzt im Westen Modernisierungskräfte frei. Der Osten drängt auch knapp zehn Jahre nach dem Zusammenbruch zielstrebig auf die Westintegration, setzt seine Hoffnung auf den westlichen Stabilitätskern. Euro und Erweiterung sind die treibenden Kräfte einer Neuordnung der europäischen und globalen Machtarchitektur - sie werden Europa ein neues Gesicht geben.
Bereits in Kürze werden die positiven ökonomischen Aspekte, die man sich von der Einführung einer gemeinsamen Währung verspricht, zum Tragen kommen. Für die europaweit tätigen Unternehmen, die bisher auch im Binnenmarkt erhebliche Transaktionskosten zu verzeichnen hatten, werden die Währungsverluste im Euro- Raum entfallen. Es wird zu einer Reduzierung der Abhängigkeit von Drittwährungen, vor allem dem Dollar, kommen. Der Euro wird neben dem Dollar zur zweiten grossen Weltreservewährung.
Die gemeinsame Währung wird aber weit mehr sein als eine finanztechnische Transformation. Der Euro ist die Krönung des Binnenmarktes, da er erstmals die volle Transparenz von Angebot und Aufwendungen gewährleisten wird. Er ist die ebenso symbolische wie alltäglich-praktische Bindung, die künftig das Aufeinanderangewiesensein der Europäer sinnfällig erfahren lassen kann. Die Europäer rücken enger zusammen, weil alle politischen Daten relevant sind für die Währung und ihre Einschätzung. So wird der Euro zur Münze der Identität und lässt die Spirale der Integration weiterdrehen, indem neuer politischer Handlungsspielraum entsteht.

Konfliktpotential

Zum anderen wird die gemeinsame Währung die Mitgliedsländer von Euro-Land aber auch vor ganz neue Herausforderungen stellen. Die Staaten rücken enger zusammen, und dadurch wird die Gemeinschaft konfliktträchtiger. Die Fokussierung auf die seit Maastricht wie Ikonen verehrten Stabilitätskriterien kann für die Gemeinschaft zur Zerreissprobe werden. Denn spätestens wenn die ersten Verstösse zu spürbaren Bussgeldern führen müssten, steht die Tragfähigkeit des Stabilitätspaktes auf dem Prüfstand. Europa wird ein heterogener Wirtschaftsraum mit einer Währung sein, in dem die Instrumente der bisherigen nationalen Währungspolitik - Zins- und Wechselkurspolitik - nicht mehr zur Verfügung stehen.
Die Minderung von Asymmetrien kann daher über kurz oder lang die Notwendigkeit europaweiter Finanztransfers nach sich ziehen. Die Bereitschaft hierzu ist aber noch nicht erkennbar, wie bereits die Verteilungskonflikte bei der Reform der Agrar- und Strukturpolitik und der Festlegung des Finanzrahmens für die Jahre 2000-2006 zeigen. Der Euro-Raum katapultiert Europa zudem in den Weltmachtstatus. Ein neues europäisch-amerikanisch dominiertes Weltwährungssystem wird das alte vom Dollar geprägte Gefüge ablösen. Dadurch wird auch das transatlantische Verhältnis neu austariert werden müssen. Was den Europäern allerdings noch fehlt, ist das Denken in weltpolitischen Kategorien. Denn dies würde bedeuten, die gemeinsame Aussenwirtschaftspolitik zu stärken und um eine gemeinsame Aussenwährungspolitik zu ergänzen. Schon heute herrscht Unsicherheit, wer denn die Mitglieder der Währungsunion in den internationalen Finanzgremien vertreten soll. Weder die elf Finanzminister noch die Kommission oder die halbjährlich rotierende Präsidentschaft - die ja nicht unbedingt ein Euro-Mitglied innehaben wird - scheinen hierfür geeignet. Unsicherheit ist aber das letzte, was sich eine der Stabilität verpflichtete Währungsgemeinschaft leisten kann.

Noch kaum ein Machtfaktor

Zeitgleich treten neben dem Euro mit der Erweiterung neue Herausforderungen an den Tag. Die Amerikaner ziehen sich mehr und mehr zurück, Deutschland steht im Spagat zwischen französischer Transatlantik-Skepsis und britischer Transatlantik-Verbundenheit, und die Nato-Osterweiterung löst in der russischen Politik Nervosität aus. Dieses machtpolitische Vakuum wird durch die Europäische Union nicht ausgefüllt, obwohl sie zum zentralen Gravitationsfeld der europäischen Hemisphäre geworden ist, wie der unverminderte Andrang auf eine Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Staaten zeigt.

Die Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien, Ungarn, Estland, Slowenien und Zypern sind bereits eröffnet. Rumänien, Bulgarien, die Slowakei, Lettland und Litauen stehen in den Startlöchern, um in Kürze ebenfalls den Concours der Aufnahmeverhandlungen zu durchlaufen. Andere Staaten wie die Schweiz, Norwegen, Malta oder Island könnten bei einer Änderung ihrer innenpolitischen Prioritäten jederzeit zu aussichtsreichen Beitrittskandidaten werden. Die Türkei - oder in Zukunft auch die Ukraine - wollen sich zumindest ein «window of opportunity» für einen späteren Beitritt offenhalten. Damit eröffnen sich atemberaubende Chancen, aber auch Risiken für die weitere Entwicklung der europäischen Integration.

Stabilisierungsaufgaben

Vor allem aber kann Europa den ethnischen Konflikten auf dem Balkan - ob in Bosnien oder nun in Kosovo - nicht tatenlos zusehen. Denn die EU umschliesst nach der Erweiterung eine explosive Enklave mit Kroatien, Jugoslawien, Bosnien- Herzegowina, Mazedonien und Albanien - fünf Staaten, die nach einer politisch-ökonomischen Transformation durchaus ebenfalls Mitgliedstaaten der EU werden könnten. Eine grösstmögliche Vielfalt der Traditionen, Temperamente und Mentalitäten trifft dort in einer grösstmöglichen räumlichen Dichte aufeinander. Die Union sollte aktiv zur Stabilisierung dieser Region beitragen.
Die geographische Ausdehnung durch die Erweiterung geht mit einer Stärkung der wirtschaftlichen Stellung der Gemeinschaft in der Welt einher. Bald jeder siebte Staat der Welt wird Mitglied der Europäischen Union sein. Diese Staaten wickeln etwa die Hälfte des Welthandels ab und erbringen rund ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung. Der europäische Binnenmarkt umfasst dann knapp eine halbe Milliarde Bürger. Die Beitrittskandidaten werden auf absehbare Zeit durch ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum auch den bisherigen Mitgliedstaaten Wachstumsimpulse bieten. Allerdings werden die meisten mittelosteuropäischen Staaten bei einem Beitritt vor dem Jahr 2005 über kaum mehr als 40 Prozent des durchschnittlichen Bruttosozialprodukts der EU verfügen. Dieses Wohlstandsgefälle kann enorme Spannungen erzeugen, die wohl nur durch langjährige Übergangsregelungen in den finanzrelevanten Politikbereichen, vor allem der Agrar- und Strukturpolitik, zu entschärfen sind.

Erweiterungsvorbereitungen

Die Erweiterung wird auch erhebliche politische Auswirkungen auf die Struktur und Politiken der Union selbst haben. Nach der Agenda 2000 sollen im nächsten Jahr die Reform der Agrar- und Strukturpolitik sowie die Aufstellung des neuen Finanzrahmens für die Haushalte 2000-2006 erfolgen. Die Reformen sollen die gemeinsamen Politiken auf 20 und mehr Mitgliedstaaten vorbereiten und gleichzeitig Mittel für die Vorbereitung des Beitritts der mittelosteuropäischen Staaten freisetzen, ohne den bestehenden Finanzrahmen von 1,27 Prozent des europäischen Bruttosozialproduktes auszuweiten. Die an Fahrt gewinnende Reformdebatte macht aber bereits heute deutlich, dass die alten Mitgliedstaaten nicht bereit sind, auf bestehende Pfründen zu verzichten. Neben der materiellen gilt es auch die institutionellen Vorbereitungen der Erweiterung zu treffen. Die Handlungsfähigkeit und die Akzeptanz der EU leiden an der Intransparenz der Kompetenzstrukturen, der Ineffektivität der Entscheidungsprozesse in den mit Einstimmigkeit zu beschliessenden Politikbereichen und der mangelnden Legitimation mehrheitlich getroffener Entscheidungen ohne ausreichende Einbeziehung des Europäischen Parlamentes. Dieser grundsätzliche Befund wird aber durch die Erweiterung in einigen konkreten Punkten noch verstärkt. Denn sowohl die Neugewichtung der Stimmen im Rat wie die Begrenzung der Zahl der Kommissare und Parlamentarier wurden durch den Vertrag von Amsterdam nur ungenügend gelöst.

Politischer Ernstfall

Euro und Erweiterung werden wirtschaftliche Asymmetrien und gegensätzliche politische Interessen der Mitgliedstaaten deutlicher zum Tragen bringen - Europa wird zum politischen Ernstfall. Denn durch Europas Integration ist die Einheit von Wirtschaftsraum, Sozialraum und Staat in ihrer ordnenden Zuständigkeit aufgelöst. Nicht alle Staaten werden aber gleichermassen und mit den gleichen Mitteln auf diese Herausforderungen reagieren wollen. Vor allem aber müssen die Union und ihre Mitgliedstaaten wirklichkeitsadäquate Leitbilder für die Zukunft der europäischen Integration finden. Denn Europa befindet sich auf dem Weg in eine neue Ära. Der Traum und die Vision der Kriegsgeneration steht vor der Erfüllung. Zumindest in Westeuropa herrscht seit mehr als 50 Jahren Frieden statt Krieg und Wohlstand statt Mangel.
Die Europäische Union befindet sich in einem neuen Aggregatzustand der Integration und entwickelt sich zu einem der wichtigsten Zentren der globalen Architektur. Diese Entwicklung muss Europa zur Kenntnis nehmen, um seinen Platz in einer neuen Epoche finden und ausfüllen zu können. Es rächt sich, dass seit den fünfziger Jahren in der europäischen Integration keine anspruchsvolle intellektuelle Debatte über die Zukunft Europas geführt wurde. Daher müssen nun die konzeptionellen Konturen und Ziele der künftigen Europapolitik festgelegt werden.


   
           
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Aktualisiert am: 06.12.2002   Impressum | Design by [meteme.de]   Seite drucken | Seitenanfang