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Kosten, Nutzen und Chancen der Osterweiterung für die Europäische Union
ResümeeDie Osterweiterung wird das Gesicht der Europäischen Union grundlegend verändern. Erstmals seit den Anfängen der westeuropäischen Integration wird die Vision eines Vereinten Europa wahr. Statt diese historische Chance zu ergreifen, zaudern und zögern die Politiker. Mehr und mehr zeigt sich, daß viele westeuropäische Regierungen - trotz anderslautender Lippenbekenntnisse - eine große Europäische Union gar nicht oder nur nach ihren Spielregeln wollen. Dies hat die Regierungskonferenz von Amsterdam, bei der die notwendigen institutionellen Reformen über das Jahr 2000 hinaus verschoben wurden, erneut eindrucksvoll bewiesen. Die europäische Politik - so ließe sich die Lehre von Amsterdam formulieren - ist derzeit nur zu kurzsichtigen Reformschritten in der Lage. Das Ringen um Millimeter beherrscht die Szenerie. Festgefahrene Interessengegensätze prägen auch das Erweiterungskonzept der Europäischen Kommission, die Agenda 2000. Die Kommission begnügt sich mit halbherzigen Änderungen des bestehenden Systems, die die Besitzstände der heutigen Mitglieder im wesentlichen unangetastet lassen. Zusammen genommen, verfestigen der Vertrag von Amsterdam und die Agenda
2000 den Status quo. Sie behindern eine schnelle und umfassende Öffnung
der Europäischen Union nach Osten. Unter diesen Vorzeichen wird das
große Europa nur mühsam entstehen. Die EU-Mitglieder werden
sich zögerlich an die Erweiterung herantasten und immer wieder verharren,
um die Lasten untereinander neu auszuhandeln. All die, die sich als Verlierer
der Osterweiterung wähnen, versuchen ihre Besitzstände mit dem
Kostenargument zu wahren. Es lautet: So wünschenswert und sinnvoll
die Osterweiterung in politischer Hinsicht sein mag, für die EU-Mitglieder,
deren Unternehmen und Bürger ist dieser Schritt jedoch mit enormen
finanziellen Belastungen verbunden. Der größere Markt wird nicht nur die Absatzchancen, sondern auch die Bezugsmöglichkeiten der EU-Unternehmen erhöhen. Mit ihm sind komparative Vorteile, steigende Skalenerträge sowie der Transfer von Technologien und Knowhow verbunden. Gleichzeitig zwingt der größere Markt die heimische Wirtschaft auch zur ständigen Überprüfung ihrer Kosten und Preise, was die Wohlfahrt der Konsumenten (über niedrigere Preise und eine größere Angebotspalette) nachhaltig steigert. Mit ihren Wachstums-, Wohlfahrts- und Strukturwirkungen verhilft die
Osterweiterung der EU zu einer höheren globalen Wettbewerbsfähigkeit.
Zahlreiche Indikatoren deuten darauf hin, daß die Union dabei ist,
in den dynamischen und zukunftsträchtigen Sektoren der Weltwirtschaft
den Anschluß zu verlieren. Im Zeichen europäischer Nabelschau
konzentriert sich die innerhalb der EU praktizierte industrielle Arbeitsteilung
auf Länder mit hohen Lohnkosten. Niedrige Lohnkosten in Mittel- und
Osteuropa bieten Anreize, um arbeitsintensive Produktionen in die unmittelbare
geographische Nachbarschaft anstatt in traditionelle Billiglohnländer
auszulagern. In vielen Branchen bieten die mittel- und osteuropäischen
Länder den EU-Unternehmen jedoch nicht nur preiswerte, sondern auch
gut qualifizierte Arbeitskräfte, so daß eine intra-industrielle
Arbeitsteilung entstehen kann, die einen komparativen Vorteil für
die EU im globalen Wettbewerb bedeutet. Die Eingliederung kostengünstiger
Produktionsstandorte in die Union erhöht nicht nur die Sicherheit westeuropäischer
Arbeitsplätze, sie erzwingt auch den Übergang zu höherwertiger und
technologieintensiver Produktion und damit zur höheren Wettbewerbsfähigkeit. Natürlich wird sich der Nutzen der Osterweiterung nach Ländern,
Regionen und Sektoren unterschiedlich verteilen. Diejenigen EU-Mitglieder
(wie Deutschland), die intensivere Kontakte mit den mittel- und osteuropäischen
Beitrittskandidaten unterhalten oder sich in einer günstigeren geographischen
Lage befinden, werden stärker profitieren als andere. Schwieriger
ist die Situation für weniger wettbewerbsstarke EU-Länder (wie
Spanien, Portugal und Irland). Doch auch in ihrem Fall bestehen wenige
Anhaltspunkte dafür, daß sie durch die neue Konkurrenz von
den Märkten verdrängt werden könnten. Wahrscheinlicher ist,
daß sie wettbewerbsfähig genug sind, um gegen die Konkurrenz
der Staaten Mittel- und Osteuropas zu bestehen bzw. daß sie ebenfalls
direkte Vorteile aus dem Handel mit den östlichen Nachbarn ziehen. Auf zwischenstaatlicher Ebene bietet die EU einen Rahmen zur Verbesserung der Beziehungen ihrer neuen Mitglieder. Sie besitzt gefestigte und eingespielte Strukturen zur Diskussion von Fragen aus allen Politikfeldern, während sie zugleich die Achtung von Menschen- und Minderheitenrechten fördert. Mit ihrem Zwang zu Mehrheitsentscheidungen lehrt die EU-Mitgliedschaft, Konflikte einvernehmlich beizulegen und Kompromisse zu schließen. Die Freizügigkeit in der Union erhöht soziale Kontakte, wodurch historisch belastete Beziehungen (wie im Falle Deutschlands und Frankreichs) an Brisanz verlieren. Offene Grenzen können Minderheitenkonflikte entschärfen. Vertrauensbildend und konfliktmindernd wirkt auch die von der Union geförderte grenzüberschreitende Kooperation, die in allen mittel- und osteuropäischen Staaten unterentwickelt ist. Der Zugang zum gemeinsamen Markt, zu den Kohäsions- und Strukturfonds der Union sowie zur Gemeinsamen Agrarpolitik wird die Gefahr sozialer Spannungen in den Beitrittsländern verringern. Die EU-Mitgliedschaft stellt somit einen wirksamen Schutz gegen die Risiken einer Armutsmigration dar. Gleiches gilt für den Kampf gegen die organisierte Kriminalität, die in den mittel- und osteuropäischen Staaten bislang unbekannte Dimensionen erreicht hat. Die Zusammenarbeit im Bereich Innere Sicherheit und Justiz, Europol und seit Amsterdam auch das Schengener Abkommen bilden die geeigneten Mittel im Umgang mit dieser Bedrohung. Die Osterweiterung vermindert nicht zuletzt gravierende ökologische Probleme,
die in Mittel- und Osteuropa als Erbe der sozialistischen Vergangenheit
fortbestehen. Durch die Übernahme von EU-Umweltstandards und Knowhow-Transfer
werden entsprechende Risiken, die durch ihren grenzüberschreitenden
Charakter ganz Europa gefährden können, entschärft. Einen direkten institutionellen Nutzen für die Europäische Union wird die Osterweiterung nicht mit sich bringen. Denn je mehr Mitglieder die Union hat, desto heterogener wird die Interessenlage der Mitgliedstaaten und desto komplizierter und anfälliger wird das institutionelle Gefüge der EU. Wenn die EU aber ihre internen Reformen im Zuge der Erweiterungsdynamik angemessen umsetzt, dann birgt dies erhebliche Optimierungspotentiale für das bestehende institutionelle und prozedurale System und damit einen weitreichenden Nutzen für die Union und ihre Mitgliedstaaten. Bereits im Vertrag von Amsterdam läßt sich in einigen Passagen
ein Nutzen erkennen, der direkt auf die Erweiterung zurückzuführen
ist. Der Erweiterungsdruck steigert somit nachdrücklich den ohnehin
vorhandenen Reformbedarf der EU, den der Vertrag von Amsterdam jedoch
noch nicht angemessen aufgearbeitet hat. Europa ist heute kaum noch vermittelbar. Die wildwüchsige Entwicklung von Kompetenzen und Verfahren auf Unionsebene, die mangelnde demokratische Legitimation der EU-Institutionen sowie das Mißtrauen gegenüber dem Brüsseler Beamtenmoloch haben zu einem starken Vertrauensverlust bei den Bürgen geführt. Mehr denn je braucht Europa einfach nachvollziehbare und vermittelbare Leitideen, um die gesellschaftliche Akzeptanz für eine weitere Vertiefung der europäischen Integration aufrechtzuerhalten. Die Osterweiterung ist eine solche Idee. Sie wird nicht nur von der Mehrheit der Unionsbürger unterstützt, sondern ist auch eng mit den Grundwerten der Europäischen Union und mit der Einigungsidee verbunden. Sie kann als Symbol und Antrieb für eine neue Phase der europäischen Integration dienen. Obwohl sich die EU stets zur europäischen Einigung bekannte, ließ sie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts keine institutionellen Konsequenzen folgen. Sie schloß mit den Staaten Mittel- und Osteuropas lediglich Assoziierungsabkommen ab, die zwar die Aussicht auf eine Mitgliedschaft eröffneten, aber als konkreten Schritt nur eine Handelsliberalisierung vorsahen. Damit grenzte die EU die Staaten Mittel- und Osteuropas von ihren Entscheidungsprozessen aus. Insofern trägt die Union mit ihrer formalen Struktur zur Teilung Europas bei. Nur die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten in die Union und ihre formelle Gleichstellung mit den jetzigen EU-Mitgliedern kann die Spuren des geteilten Europas überwinden. Empirische Untersuchungen belegen, daß die jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas noch nicht umfassend konsolidiert sind. Dies erhöht die Gefahr, daß sich unter dem Deckmantel formeller Demokratie nationalistische und populistische Eliten durchsetzen, die autoritäre Praktiken etablieren. Eine weitere "Nationalisierung" von politischer Kultur und Politik in Mittel- und Osteuropa würde überdies den europäischen Integrationsprozeß fundamentaler in Frage stellen als die Probleme des Regierens in einer erweiterten Union. Die Osterweiterung verringert dieses Risiko, da die neuen EU-Mitglieder in ein demokratisches System mit starken Zivilgesellschaften eingebunden werden, wodurch der Wandel hin zu einer demokratischen politischen Kultur beschleunigt wird. Acht Jahre nach Öffnung des Eisernen Vorhangs existieren noch zu wenig
Möglichkeiten der persönlichen Begegnung zwischen Ost- und Westeuropa.
Daher werden in Westeuropa weiterhin negative Assoziationen mit Osteuropa
verbunden. Der EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten
wird die Bedingungen und Anreize für eine private Begegnung verbessern.
Er wird die Gesellschaften West- und Osteuropas auf unterschiedlichen
Ebenen miteinander vernetzen, was zu einem besseren gegenseitigen Verständnis
und zum Abbau von Stereotypen führen kann. Außerdem bietet
er Lernchancen für beide Seiten. Denn gerade in Westeuropa ist die
Haltung weit verbreitet, osteuropäische Erfahrungen zu ignorieren.
Dabei verfügen die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas über
ein großes soziales Kapital, das sich in Eigenschaften wie Flexibilität,
Improvisationsfähigkeit, Selbsthilfe und Solidarität ausdrückt.
Zweitens ist es immer schwer, eine "negative Argumentation" durchzusetzen, bei der man auf die zusätzlichen Kosten und auf die nicht realisierten Kosten einer Nicht-Erweiterung aufmerksam macht. Die europäische Geschichte lehrt, daß diese erst im nachhinein der europäischen Politik und Öffentlichkeit bewußt werden. |