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P o s i t i o n
Die Europäer haben gewählt - Europa hat gefehlt
Ein Kommentar zu den Ergebnissen der Europäischen Parlamentswahlen
16.06.2004 - Von Thomas Fischer (Bertelsmann
Stiftung)
Die Kluft wächst. Während der integrationspolitische Schnellzug im ersten
Halbjahr 2004 Höchstgeschwindigkeit erreicht, hat die Zahl der Fahrgäste kontinuierlich
abgenommen. Schon wenige Wochen nach der EU-Erweiterung zum 1. Mai folgt der erneute
Anlauf zur gemeinsamen Verfassungsgebung Mitte Juni. Gleichzeitig haben bei der bislang
größten Wahl zum Europäischen Parlament von 342 Mio. stimmberechtigten
EU-Bürgern in den 25 Mitgliedstaaten nur noch 45,3% den Gang zur Wahlurne angetreten.
Damit ist die Wahlbeteiligung seit den ersten Europawahlen auf einem absoluten Tiefstand
angelangt.
Die Mehrheit der Wahlberechtigten ist also erst gar nicht zugestiegen, weil das Gefühl
vorherrscht, ohnehin nicht zu wissen oder keinen Einfluss darauf zu haben, wohin die
Reise gehen soll. Dagegen finden sich unter jenen Bürgern, die ein Ticket gelöst
und an den Wahlen teilgenommen haben, viele, die gar nicht über Europas Reisegeschwindigkeit
und -richtung entscheiden wollten. Eine zweite Gruppe von Wählern, die deutlich
an Gewicht gewonnen hat, will den Zug der europäischen Einigung deutlich abbremsen
oder ihn sogar auf die Gegenspur setzen.
Massiven Anlass zu der Sorge, dass der europäische Zug ohne seine Bürger
abgefahren ist, geben vor allem drei kritische Beobachtungen bei der Betrachtung der
aktuellen Wahlergebnisse:
a) Vergleicht man die bisherigen Wahlen zum Europäischen Parlament, so fällt
zunächst auf, dass es bereits dramatischere Einbrüche in der Wahlbeteiligung
gegeben hat. Am höchsten fiel die Beteiligung bei den ersten Europawahlen im
Jahr 1979 aus, als sie noch bei 63% lag. Der stärksten Rückgang war bislang
1999 zu beobachten: Gegenüber rund 57% Beteiligung im Jahr 1994 übten damals
nur knapp 50% der EU ihr Wahlrecht aus. Gemessen daran erscheint das Absacken der
Wahlbeteiligung um weitere 4% im Jahr 2004 zumindest nicht als Katastrophe.
Allerdings verändert sich das Bild grundlegend, wenn zwischen den Mitgliedern
der EU-15 einerseits und den mittel- und osteuropäischen Neumitgliedern in der
EU-25 andererseits unterschieden wird. Während die Wahlbeteiligung in den Altmitgliedern
bei gut 47% lag und mit Ausnahme Dänemarks, Deutschlands, Frankreichs, Griechenlands
und Österreichs sogar angestiegen ist, liegt sie in den zehn Neuen bei desaströsen
26%. Traurige Spitzenreiter sind dabei die Slowakei mit knapp 17% und Polen mit knapp
21%.
Eine Erklärung für dieses extrem niedrige Interesse an den Europawahlen
liegt sicherlich darin, dass den dortigen Bürgern nur schwierig zu vermitteln
war, so kurz nach den Beitrittsreferenden im letzten Jahr schon wieder abstimmen zu
müssen. Gleichzeitig werden darin aber schwerwiegende Informationsdefizite von
Seiten der nationalen Politik über den politischen Charakter des Integrationsprozesses
erkennbar. Für die öffentliche Akzeptanz der künftigen EU-Verfassung
und damit auch für den Ausgang der nationalen Ratifikationsverfahren lässt
dies in der Mehrheit der mittelosteuropäischen Neumitglieder nichts Gutes erwarten.
b) Abgesehen von Spanien, Griechenland, Finnland und Luxemburg haben die Wähler
ihre Europawahlstimme vor allem genutzt, um die jeweils amtierenden Regierungsparteien
abzustrafen. Erdrutschartige Verluste verbuchten dabei vor allem die Sozialdemokraten
in Deutschland (21,5%), die UMP des französischen Staatspräsidenten Chirac
(16,6%), Blairs Labour-Partei in Großbritannien (22%), Berlusconis "Forza
Italia" in Italien (21%) sowie das in Polen regierende Bündnis der Demokratischen
Linken (10,3%).
Wie schon in früheren Europawahlen haben vor allem die nationalen Oppositionsparteien
den Wahlkampf innenpolitisch als Stimmungsbarometer gegen die Regierungsmehrheit instrumentalisiert.
Gerade auch an der deutschen Wahlberichterstattung war gut erkennbar, dass die Medien
zu dieser Tendenz beitragen. So fiel es beispielsweise auf, dass in den ersten Hochrechnungen
nach Schließung der Wahllokale kaum Zahlen über die neuen Mehrheitsverhältnisse
im Europäischen Parlament genannt wurden. Der Schwerpunkt der Wahlanalysen lag
eindeutig auf der Bewertung des jeweiligen Abschneidens der nationalen Parteien. Obwohl
die Europäer ihr gemeinsames Parlament gewählt haben, wurden Europathemen
im Wahlkampf kaum diskutiert. Anstatt dem Bürger mit seiner Wahlstimme die Möglichkeit
zu politischen Richtungsentscheidungen auf EU-Ebene zu geben, sind die Europawahlen
in vielen Mitgliedstaaten einmal mehr zu innenpolitischen Denkzettelwahlen verkommen.
c) Auf EU-Ebene führen die Ergebnisse der jüngsten Wahlen zu einigen wichtigen
Veränderungen in der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments - die allerdings
wegen der stark national eingefärbten Wahlkämpfe keineswegs als bewusste
Richtungsentscheidung der Wählermehrheit für die europäische Politik
gewertet werden können. Zunächst scheint sich - abgesehen davon, dass die
Zahl der Abgeordnetensitze im ersten Parlament der EU-25 von 626 auf 732 ansteigt
- nicht viel zu ändern: Mit künftig 276 Madaten bleibt die konservative
Europäische Volkspartei stärkste Partei, gefolgt von den Sozialdemokraten
mit 200 Sitzen, den in der ELDR-Gruppe zusammengeschlossenen liberalen Demokraten
und den europäischen Grünen, die jeweils 67 bzw. 42 Abgeordnete stellen.
Hinter dieser vermeintlichen Klarheit der Mehrheitsverhältnisse zeigt sich
aber, dass sich die Entscheidungsfindung im künftigen Parlament aus zwei Gründen
deutlich schwieriger gestalten könnte: Zum einen hat in der Gruppe der "Sonstigen"
das Gewicht extrem europakritischer Bewegungen deutlich zugenommen. Ob die EU-feindliche
"United Kingdom Independence Party" (UKIP) in Großbritannien, die
nationalistische "Liga der polnischen Familien" oder das "Bündnis
Selbstverteidigung" des Populisten Lepper in Polen, die ODS von Präsident
Vaclav Klaus und die kommunistische KSCM in der Tschechien, die erst kurz vor der
Wahl gegründete "Juni-Liste" in Schweden oder der fremdenfeindliche
"Vlaams Blok" in Belgien - in vielen Mitgliedstaaten haben die Gegner eines
vereinten Europas und Bewegungen am äußersten rechten oder linken Rand
des Parteienspektrums stark zugelegt.
Angesichts dieses bunten Sammelsuriums von rund 100 Europaskeptikern im neuen Parlament
werden die traditionellen Parteien stärker denn je auf eine enge Zusammenarbeit
angewiesen sein. Dem steht jedoch entgegen, dass gerade der innere Zusammenhalt der
Europäischen Volkspartei als größter Fraktion - auch angesichts der
zunehmenden Heterogenität ihrer Zusammensetzung in der erweiterten EU - deutlich
geschwächt ist. So liebäugelt der Chef der französischen UDF, François
Bayrou, seit einiger Zeit mit der Idee, die Fraktion der Konservativen zu verlassen
und sich mit der proeuropäischer gesinnten liberalen ELDR-Gruppe zusammen zu
schließen. Die gleichen Pläne hegt Romano Prodi für den rechten Flügel
des italienischen Ölbaum-Bündnisses. Damit würde aber zugleich das
Gewicht der europaskeptischen britischen Torries und Forza-Italia-Vertreter innerhalb
der Fraktion der Volkspartei zunehmen.
In der Summe ergibt sich daraus, dass künftig stärkere Auseinandersetzungen
innerhalb des Europäischen Parlaments über die Grundausrichtung des Integrationskurses
zu erwarten sind. Diese Politisierung der Debatte ist grundsätzlich durchaus zu
begrüßen. Allerdings fehlt ihr die demokratische Legitimation, solange sie
auf keine bewusste Wahlentscheidung einer Mehrheit von EU-Bürgern für einen
bestimmten politischen Kurs zurückzuführen ist. Und genau deshalb ist es höchste
Zeit, dass Europawahlkämpfe dem Bürger endlich die Möglichkeit eröffnen,
klar zwischen Regierungsmehrheit und Opposition auf EU-Ebene zu unterscheiden.
Die Europawahlen 2004 haben hingegen die Frage nach der künftigen Gestalt und
den Aufgaben des politischen Systems der Europäischen Union wieder einmal ausgeklammert.
Wie kann hier Abhilfe geschaffen werden? Unmittelbar erkennbar sind vor allem drei Ansatzpunkte,
um die Wählerschaft stärker zu mobilisieren und gleichzeitig die Wahlen zum
Europaparlament zu "europäisieren":
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In der Pflicht sind zunächst einmal die nationalen Parteien, die endlich
davon Abstand nehmen müssen, Europawahlen als innenpolitische "Denkzettel"-Wahlen
zu instrumentalisieren. Dies setzt voraus, dass sie ihr europapolitisches Profil
schärfen und europapolitischen Fragen an sich einen gebührenden Stellenwert
in der nationalen Debatte einräumen.
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Seit Jahrzehnten übt sich das Europäische Parlament darin, immer wieder
Vorschläge für ein europäisches Wahlrecht vorzulegen. Die in diesem
Zusammenhang angestellten Überlegungen, zumindest einen Teil der Sitze im Europäischen
Parlament über transnationale Wahlkreise zu besetzen, weisen dabei in die richtige
Richtung.
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Dieser Schritt könnte auch dazu beitragen, dass an die Stelle der heutigen
europäischen Parteienbündnisse allmählich echte europäische
Parteien treten. Von wenigen Ausnahmen, wie den erst unlängst gegründeten
Europäischen Grünen, abgesehen existiert nach wie vor keine eigene Parteienlandschaft
auf EU-Ebene. Das schon 2003 verabschiedete europäische Parteienstatut dürfte
den Weg dorthin immerhin erleichtern.
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Von Schlüsselbedeutung für die demokratischen Grundlagen des größeren
Europa wird es sein, dass die europäische Politik endlich mit Gesichtern verbunden
wird, die für ein bestimmtes Programm stehen. Dies gilt vor allem für
das Amt des Kommissionspräsidenten. Die europäischen Parteienbündnisse
sollten deshalb bei der nächsten Europawahl 2009 mit eigenen Spitzenkandidaten
für dieses Amt antreten. Nachdem die bis dahin voraussichtlich in Kraft getretene
EU-Verfassung vorsieht, dass die Benennung des Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft
durch die Staats- und Regierungschefs künftig im Lichte der Ergebnisse der
Europawahlen zu erfolgen hat, stehen die Vorzeichen dafür günstiger denn
je.
Wenn die Europäer wählen, muss tatsächlich Europa im Mittelpunkt ihrer
Wahlentscheidung stehen. Dafür ist ein Mehr an europäischer Öffentlichkeit
erforderlich. Die Einrichtung des Konvents zur Vorbereitung der künftigen Verfassung
Europas schien dafür zu sprechen, dass die Mitgliedstaaten dieses Problem erkannt
haben. Umso enttäuschender ist der Rückfall in nationales Denken, der in den
jüngsten Europawahlen überwog. Es ist deshalb höchste Zeit, dass die
Politik endlich erkennt, wie gefährdet das Projekt der politischen Integration
Europas ohne das tragfähige Fundament einer breiten Zustimmung durch die EU-Bürger
ist - und aktiv die Voraussetzungen für "europäische" Wahlen im
eigentlichen Sinne des Wortes schafft.
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