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P o s i t i o n

Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells

Von Thomas Fischer - Juli 2003


Die Krise des Wohlfahrtsstaates ist in aller Munde. In Deutschland hat die politische Debatte mit dem Reformpaket zum Umbau der Sozialsysteme, zur Reform des Arbeitsmarktes und zur Förderung des Wirtschaftswachstums, das die rot-grüne Bundesregierung unter der Bezeichnung "Agenda 2010" geschnürt hat, eine neue Zuspitzung erfahren. Wie auch Bundeskanzler Schröder bei der Vorstellung dieses Programms in seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 deutlich gemacht hat, ist es eine komplizierte Gemengelage aus internen und externen Faktoren, die Einschnitte in das soziale Leistungsniveau und eine Neujustierung der Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme erforderlich machen.

Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die fortschreitende Verschiebung der Alterspyramide nach oben führen dazu, dass in der Bundesrepublik immer weniger Beitragszahlern immer mehr Leistungsempfänger gegenüberstehen. Um im internationalen Standortwettbewerb wettbewerbsfähig zu bleiben, verbietet es sich aber, die dadurch stetig zunehmende Finanzierungslücke auf der Einnahmenseite durch Steuererhöhungen oder zusätzliche Abgabenbelastungen - und damit Lohnnebenkosten - von Unternehmern und Kapitalanlegern zu decken. Remedur soll deshalb letztlich durch einen Dreischritt von Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und verbessertem Qualifikationsangebot zur Erhöhung der Beschäftigungsquote, ein höheres Maß von privater Vorsorge vor allem in der Rentenversicherung und im Gesundheitswesen sowie eine Beschränkung der Bezugsdauer, der Zugangsvoraussetzungen und des Leistungsumfangs in der Arbeitslosenversicherung geschaffen werden.

Tatsächlich steht die Bundesregierung mit diesem Reformansatz jedoch nicht alleine da. In allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist vor allem seit Beginn der neunziger Jahre eine Abkehr vom Modell der Wohlfahrtsstaatlichkeit der Nachkriegszeit zu beobachten, das durch aktive makroökonomische Steuerung und sozialpolitische Umverteilung die Wirtschaftsentwicklung politisch kontrollierbar machen und sozial unverträgliche Marktergebnisse korrigieren sollte. Vor allem in Kontinentaleuropa zeigen sich die Nachwehen dieses Modells, das darauf abstellte, durch Arbeitsmarktregulierung und umfassende Lohnersatzleistungen dem Faktor Arbeit den reinen Warencharakter zu nehmen ("De-Kommodifizierung"), noch immer in einer Staatsquote von nicht selten vierzig oder sogar fünfzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Vor allem die "neue" Sozialdemokratie der neunziger Jahre - New Labour, Neue Mitte - gab den Anstoß zu einem Umbau europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit, der an die Stelle von "welfare without work" und von sozialer Gerechtigkeit gegen den Markt den Versuch setzt, diese mit und durch den Markt zu erreichen.

Markverlierer sollen durch den Staat nicht mehr ex post kompensiert werden, sondern viel mehr sollen möglichst viele Menschen ex ante eine Chance auf Markterfolg erhalten. Schlagwortartig bündeln lässt sich dieses neue Verständnis wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben in den Stichworten: "Hilfe zur Kommodifizierung der eigenen Arbeitskraft statt Schutz durch De-Kommodifizierung, Aktivierung statt passiver Versorgung" (Wolfgang Streeck). Im Mittelpunkt stehen dabei Konzepte wie "Flexicurity", durch die die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit sozialer Sicherheit kombiniert und ein größeres Gleichgewicht zwischen sozialen Anspruchsrechten und Sozialpflichten erreicht werden soll, oder "Employability", d.h. Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit des einzelnen Arbeitsnehmers durch seine arbeitsmarktgerechte Qualifizierung und lebenslange Weiterbildung.

Zumindest Globalisierungstheoretiker mögen in der feststellbaren Konvergenz der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in Europa zu diesem "dritten Weg", der letztlich auf eine "Re-Kommodifizierung" des Faktors Arbeit hinausläuft, einen Beleg für ihre These sehen, dass das Überleben des nationalen Sozialstaates in einer internationalen Marktwirtschaft nur um den Preis seiner Unterordnung unter das Ziel globaler Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden kann. Allerdings gelten dabei für die heutigen und zukünftigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen des gemeinsamen Binnenmarktes und der Europäischen Währungsunion besondere Bedingungen. Zumindest die 15 derzeitigen EU-Mitglieder teilen einige Gemeinsamkeiten, die in Abgrenzung vor allem von den USA und Japan als Grundzüge eines "Europäischen Sozialmodells" herausgearbeitet worden sind: zum ersten garantiert die öffentliche Hand dort - im Gegensatz zum Rest der Welt - ein relativ hohes Niveau sozialer Absicherung für alle Bürger; zum zweiten zeichnen sie sich durch einen hohen Grad der Interessenorganisation und eine wichtige Koordinierungsfunktion der Sozialpartner in der nationalen Lohn- und Tarifpolitik aus; zum dritten sind die EU-Mitgliedstaaten durch eine relativ ausgewogene Lohn- und Einkommensverteilung gekennzeichnet.

Dies bedeutet allerdings keinesfalls, dass diese drei Elemente in allen Mitgliedstaaten gleich stark ausgeprägt sind oder auch nur den gleichen Bauprinzipien folgen. Tatsächlich existiert in der Europäischen Union eine Vielzahl unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Traditionen, die seit den 50er Jahren zu sehr unterschiedlichen Systemausprägungen geführt haben. Bei dem Bemühen diese strukturellen Unterschiede zu typologisieren, wird dabei regelmäßig mindestens zwischen drei oder vier "Welten des Wohlfahrtskapitalismus" in Europa unterschieden - namentlich dem Skandinavischen, dem Angelsächsischen, dem Südeuropäischen und dem Kontinentalen Modell. Die Gemeinsamkeiten, die aus der Außenansicht zunächst für die Existenz eines "Europäischen Gesellschafts- oder Sozialmodells" zu sprechen scheinen, erweisen sich bei genauerer Betrachtung aus der Innenperspektive demnach als starke Verallgemeinerungen.

Hinter den verschiedenen Typen wohlfahrtsstaatlicher Systeme in der Europäischen Union verbirgt sich ein breites Spektrum unterschiedlichster Formen der Arbeitsmarktkoordination und der sozialen Sicherung. Zugleich sind diese nationalen Systeme, deren Verfassungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Regelfall einen gleichrangigen Status einräumen, aber einem Prozess der europäischen Integration unterworfen, der nach wie vor durch die konstitutionelle Asymmetrie des EU-Vertrages geprägt ist. Wirtschaftsverfassungspolitisch sind die Europäische Gemeinschaft (EG) und die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihre Wirtschaftspolitik "im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" (Artikel 98 Satz 2 EG-Vertrag) auszurichten - und eben nicht am Leitbild einer sozialen Marktwirtschaft. Verbunden mit der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Rechtsprechung zur Direktwirkung und dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts über nationales Recht hat dieses Primat marktschaffender Maßnahmen gegenüber sozialpolitisch motivierten marktkorrigierenden Interventionen zu einer sukzessiven Erosion der Souveränitäts- und Autonomie des nationalen Wohlfahrtsstaates beigetragen.

So hat die Liberalisierung des Kapitalverkehrs im Binnenmarkt Unternehmern und Kapitalanlegern die Option eröffnet, Nachteile im Kostenwettbewerb durch hohe Abgabenlasten über Sozialbeiträge und Steuern zu umgehen, indem sie Produktionsstandorte in Länder mit niedrigeren Sozialstandards verlegen. Die EU-Mitgliedstaaten tragen diese Konkurrenz vor allem miteinander aus. Dies schlägt sich eben gerade darin nieder, dass sie - wie auch im Falle der "Agenda 2010" - dazu übergehen, ihre Sozialausgaben zu reduzieren. Mittelbar begünstigt die hohe Mobilität des Kapitals im Binnenmarkt nicht nur eine stärkere finanzielle Belastung des relativ immobilen Faktors Arbeit, sondern verschiebt in den Beziehungen zwischen den nationalen Sozialpartnern zudem tendenziell das Gewicht zugunsten der Arbeitgeberseite. Eingeschränkt werden die sozialpolitischen Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten im Binnenmarkt aber auch durch den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr. Dies macht sich vor allem im Gesundheitswesen immer stärker bemerkbar. Dort hat der Europäische Gerichtshof durch seine jüngere Rechtsprechung das Tor zu einer weitreichenden Europäisierung aufgestoßen. Darüber hinaus sind aber gerade die gesundheitspolitischen Einrichtungen der Mitgliedstaaten in besonderem Maße davon betroffen, dass das Prinzip der Wettbewerbsfreiheit bislang beinahe uneingeschränkt auch Anwendung auf Dienste der Daseinsvorsorge und von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse finden soll. Eine differenzierte Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Markt und öffentlichem Sektor ist hier bislang auch nicht in Ansätzen erkennbar.

Zusätzlich setzt die Europäische Währungsunion der Fähigkeit nationaler Politik enge Grenzen, wenn es darum geht, wirksame Impulse für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zu geben. Die einheitliche Währung beraubt die teilnehmenden Mitgliedstaaten der Möglichkeit, in Reaktion auf ökonomische Krisen Wechselkursanpassungen vorzunehmen, und hat die nationale Geldpolitik durch die einheitlichen Zinssätze der Europäischen Zentralbank (EZB) ersetzt. Da sich die Politik der EZB aber an den durchschnittlichen Bedingungen in der Eurozone orientieren muss, läuft sie Gefahr, dass das von ihr gewählte Zinsniveau für Volkswirtschaften mit unterdurchschnittlichen Wachstumsraten zu hoch ist und in Ländern mit überdurchschnittlichem Wachstum Inflationsdruck erzeugt. Während dadurch das Erfordernis von Kompensationsstrategien auf nationaler Ebene eher zunimmt, beraubt der Stabilitäts- und Wachstumspakt die Mitgliedstaaten durch die Verpflichtung auf ein ausgeglichenes Budget wichtiger fiskalpolitischer Steuerungsmöglichkeiten. Unter dem Strich gewinnt damit die nationale Lohn- und Tarifpolitik als verbliebenes Mittel zur Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit erheblich an Bedeutung. Eine zunehmende Flexibilisierung der Lohn- und Tarifsysteme erscheint damit beinahe unausweichlich. Damit nimmt aber bei zunehmendem Konkurrenzdruck auch die Gefahr zu, dass die Reallohnzuwächse hinter dem Produktivitätswachstum zurückbleiben.

Zumindest theoretisch könnten die sich somit ergebenden Autonomieverluste der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik nun durch die Weiterentwicklung des "Europäischen Sozialmodells" zu einer sozialen Marktwirtschaft bzw. die Herstellung eines gleichberechtigten Nebeneinanders von ökonomischen Interessen (Marktschaffung) und sozialer Sicherheit (Marktkorrektur) kompensiert werden. Dafür wäre jedoch die Ausstattung der europäischen Ebene mit weitreichenden Befugnissen zur makroökonomischen Steuerung, Industriepolitik, sozialen Regulierung und Unternehmensbesteuerung oder gar die Harmonisierung der wohlfahrtsstaatlichen Politiken der Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Vertragsänderungen notwendig, die gleichrangig neben den Bestimmungen zur Schaffung des Binnenmarktes und der Währungsunion stehen. Genau dieses Ziel hatte der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors mit der von ihm in den 80er Jahren propagierten "Sozialen Dimension" Europas im Sinn.

Genau einer solchen Lösung steht aber die gewachsene Vielfalt strukturell unterschiedlicher sozialer Sicherungs- und Besteuerungssysteme in der Europäischen Union entgegen, die nach der Erweiterung auf 25 Mitgliedstaaten noch erheblich zunehmen wird. Die Bevölkerungen in den einzelnen Mitgliedstaaten stützen ihre Lebensplanung auf den Fortbestand bzw. allenfalls die Fortschreibung der bestehenden nationalen Systeme. Schon deshalb würde jede Vereinheitlichung auf EU-Ebene, die zu wesentlichen Veränderungen der gewachsenen Strukturen und Kernaufgaben bestehender Wohlfahrtseinrichtungen führt, auf heftigen Widerstand stoßen und eine schwere Akzeptanzkrise auslösen. Entsprechend gering fällt die Bereitschaft der mitgliedstaatlichen Regierungen aus, auf den Gebieten der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik substantielle Rechtsetzungsbefugnisse an die Europäische Union zu übertragen.

Begreift man nun die Verwirklichung eines "Europäischen Sozialmodells" als Zielvorgabe für eine künftige Gestalt der erweiterten Europäischen Union, in deren Verfassungsordnung Marktintegration und Solidarität gleichberechtigte Grundwerte bilden, so stellt sich die Frage, wie dieses Dilemma gelöst werden kann. Vorangeschickt sei in diesem Kontext, dass bereits in der bisherige Geschichte des europäischen Integrationsprozesses eine fortschreitende Ausweitung der sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten auf Unionsebene - wenn auch in begrenztem Umfang - stattgefunden hat. Einzelne Beobachter betrachten die Überführung des Maastrichter Sozialprotokolls in den Amsterdamer Vertrag von 1997 ebenso wie die dortige Einführung des neuen Beschäftigungskapitels als Wendepunkt in der Entwicklung der aktiven EU-Sozialpolitik, die seitdem nicht mehr nur als Annex anderer Politiken betrachtet werden kann.

Noch wichtiger erscheint aber, dass unter Rückgriff auf die in Maastricht und Amsterdam geschaffenen Instrumente der wirtschaftspolitischen und beschäftigungspolitischen Koordination zwischen den Mitgliedstaaten die "Methode der offenen Koordinierung" entwickelt wurde, um auf Gebieten wie dem Sozialschutz, der Zukunft der Rentensysteme, der sozialen Inklusion (Armutsbekämpfung), der Gesundheits- und Altenpflege, in der Jugendpolitik, bei der Einwanderungs- und Asylpolitik und bei der Bildungspolitik ein stärker abgestimmtes Vorgehen zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Nationale Kursbestimmungen in diesen Politikfeldern werden in diesem Rahmen als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse behandelt. Im Rahmen des offenen Koordinierungsverfahrens, das der Europäische Rat in Lissabon im März 2000 mit der Zielsetzung eingeführt hat, die Europäische Union bis 2010 zur wettbewerbsstärksten und dynamischsten Ökonomie der Welt zu entwickeln, legen die Mitgliedstaaten gemeinsame Politikziele fest, die innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens verwirklicht werden sollen. Die Kooperation bleibt dabei allerdings freiwilliger Natur und soll über "best practice"-Vergleiche, "benchmarking" und "peer review" eine Art sozialpolitische Lerngemeinschaft konstituieren. Ausdrücklich ausgeschlossen bleibt dabei aber jegliche Harmonisierung durch EU-Rechtsetzung in den genannten Gebieten.

So positiv dieser neue Ansatz auch zu beurteilen ist, so kritisch ist zu ihm aber doch anzumerken, dass er nicht dazu taugt, den marktschaffenden "Bias" des europäischen Vertragswerkes zu überwinden. Bislang zeigt sich in allen Anwendungsbereichen, dass die offene Methode der Koordinierung sich vor allem auf Verbesserungen von angebotsorientierten Politiken im Sinne neoliberaler Wirtschaftspolitik beschränkt. Der Acquis des Binnenmarktes und der Währungsunion bleibt auch diesem Abstimmungsinstrument völlig entzogen.

Gerade vor dem Hintergrund der laufenden Beratungen des Europäischen Konvents über den Entwurf eines europäischen Verfassungstextes, der von der anschließenden Regierungskonferenz voraussichtlich noch Ende diesen Jahres beschlossen wird, stellt sich deshalb die Frage, welche EU-verfassungsrechtlichen Ansatzpunkte sich bieten würden, um eine weitere Konvergenz der wohlfahrtsstaatlichen Systeme der Mitgliedstaaten zu fördern und die sozialpolitische Dimension des Integrationsprozesses zu stärken. Die Verfassungsgebung für ein so verstandenes "Europäisches Sozialmodell" sollte zumindest die folgenden Eckpunkte umfassen:

  • Die Inkorporation der von dem Europäischen Gipfel in Nizza feierlich proklamierten EU-Grundrechtecharta in den Verfassungstext: Damit würde die Charta mit ihren Ausführungen zu den Sozialrechten integraler Vertragsbestandteil und verbindliche Richtschnur für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - als Gegengewicht zu seiner bislang primär am Ziel der Marktintegration orientierten Rechtsprechung. Verstärkt werden könnte dieser Effekt in Richtung einer Ausbalancierung negativer - d.h. marktschaffender - und positiver - d.h. marktkorrigierender - Integration durch eine Verfassungsbestimmung, die in Analogie zu der Querschnittsklausel für die Umweltpolitik im bisherigen Artikel 6 des EG-Vertrages die Berücksichtigung von Fragen des sozialen Schutzes und der Beschäftigungspolitik bei der Definition und Umsetzung von Unionspolitiken generell vorschreibt.

  • Zumindest der auch mit dem Vertrag von Nizza noch in der Einstimmigkeit verbliebene Erlass von Mindestvorschriften in den Bereichen des Kündigungsschutzes, der Interessenvertretung und der Beschäftigungsbedingungen von Drittstaatsangehörigen (Art. 137 (1) d, f, g EG-Vertrag) sollte künftig im Verfahren von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat bei Mitentscheidung des Europäischen Parlaments wahrgenommen werden. Zu bedenken wäre dies auch für künftige EU-Rechtsetzung auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer (Art. 137 (1) c EG-Vertrag)

  • Es sollte den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, die öffentlichen Dienstleistungen zu definieren, die aufgrund ihrer Gemeinwohlorientierung nicht der EU-Beihilfenkontrolle unterliegen. Die Rolle der Kommission sollte in der Folge auf eine Missbrauchsaufsicht beschränkt bleiben. Voraussetzung dafür wäre, dass in den derzeitigen Artikeln 16 und 86 des EG-Vertrages die gemeinwohlorientierten Dienstleistungen gegenüber rein wirtschaftlichen Aktivitäten klarer abgegrenzt werden. Bisher liegt die Entscheidung über die Qualifizierung von Leistungen auf dem Gebiet öffentlicher Daseinsvorsorge als (unzulässige) Beihilfe noch im Ermessen der Kommission bzw. beim Europäischen Gerichtshof.

  • Sinnvoll erscheint die Anregung, zur Vermeidung eines gegenseitigen Unterbietungswettbewerbs bei der Besteuerung und der Gewährung von Sozialleistungen die offene Methode der Koordinierung mit dem Erlass von Rahmenrichtlinien zu kombinieren (Fritz W. Scharpf), um entsprechend dem jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklungsniveau für verschiedene Gruppen von Mitgliedstaaten unterschiedlich hohe Mindestvorgaben einführen zu können.

  • Darüber hinaus sollten einzelne Mitgliedstaaten mit ähnlichen Sozialstaatsmodellen künftig das Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit besser nutzen können - so ein weiterer Vorschlag von Scharpf -, um höhere bzw. niedrigere Standards zu vereinbaren. Auf diesem Wege könnten sie ihren jeweiligen Problemen angepasste gemeinsame Lösungsstrategien vereinbaren, die einen ruinösen Wettbewerb ("Sozialdumping") untereinander verhindern. Um dies zu ermöglichen, müssten allerdings die im Nizza-Vertrag noch immer sehr restriktiven Bedingungen für die Nutzung der Verstärkten Zusammenarbeit deutlich gelockert werden.

Die Berücksichtigung dieser Vorschläge bei der Verfassungsgebung im Konvent und der anschließenden Regierungskonferenz wäre ein erster wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass das "Europäische Sozialmodell" - verstanden als stärkere Verpflichtung der EU-Ebene auf das Leitbild einer "Sozialen Marktwirtschaft" - auch in einer erweiterten Union zukunftsfähig bleibt.

* Thomas Fischer, Projektmanager, Themenfeld Internationale Verständigung, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. Der Beitrag ist auch erschienen als "Brennpunkt", in: Gesellschaft - Wirtschaft - Politik (GWP) 2/2003, S. 149-154.


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