C·A·P Startseite  
 << zurück www.cap.lmu.de vor >> 
  C·A·P Übersicht  

C·A·P-Info-Newsletter

  CAP Homepage  

Suchen

 
Aktuell C·A·P Projekte Publikationen Interaktiv Kontakt
  English Version  
   
 
Hinweis: Dies ist eine Archivseite der alten C·A·P-Website.
Die neue Website des C·A·P finden Sie unter www.cap.lmu.de.
 
   
 


P o s i t i o n

Grundzüge einer europäischen Wirtschafts- und Finanzverfassung

Diskussionspapier der Bertelsmann Forschungsgruppe Politik am Centrum für angewandte Politikforschung, München, präsentiert auf der Tagung "Grundzüge einer europäischen Wirtschafts- und Finanzverfassung" der Bertelsmann Stiftung am 28. Februar 2002 in Gütersloh.

Download (45 KB, PDF-Format): Vollversion mit Anhang

Von Holger Friedrich - 25. März 2002



1. Einführung

Mit der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) ist der Europäischen Union ein entscheidender Integrationsschritt gelungen. Bisher ist die Einführung des Euro ein voller Erfolg: steigende Preistransparenz, sinkende Wechselkursrisiken und Transaktionskosten intensivieren den Wettbewerb. Ein vertiefter Finanzbinnenmarkt erhöht zudem Europas Attraktivität als Investitionsstandort. In der Summe entsteht durch die Währungsunion mehr Planungssicherheit und monetäre Verlässlichkeit. Der Euro ist zugleich eine entscheidende Antwort Europas auf die Internationalisierung der Weltwirtschaft und auf die immer härter werdende Standortkonkurrenz im globalen Wettbewerb. Die WWU ist auch ein Ausdruck des politischen Willens der Mitgliedstaaten, den Weg der Stärkung gemeinsamer politischer Handlungsfähigkeit fortzusetzen. Dies gelingt um so besser, je leistungs- und anpassungsfähiger die gemeinsamen Regeln und Verfahren sind. Mit Blick auf die Vollendung der WWU zeigt sich jedoch, dass der gegenwärtige Handlungsrahmen der Gründungsgemeinschaft immer weniger eine ausreichende Gestaltungs- und Regierungsfähigkeit auf europäischer Ebene gewährleisten kann.

Es ist folglich zu fragen, wie zukunftsfähig die gegenwärtigen Vertragsgrundlagen sind. Sie müssen garantieren, dass im weiteren Verlauf der Wirtschafts- und Währungsintegration das Prinzip der gleichen Wettbewerbsbedingungen für alle Mitgliedstaaten Bestand hat. Darüber hinaus muss das ordnungspolitische Regelwerk der Gemeinschaft in der Lage sein, den Spannungsbogen einer kontinuierlich erweiterten WWU konstruktiv auflösen zu können. Dieser reicht von der Intensivierung der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit, der schrittweisen Erweiterung und Vertiefung der WWU bis hin zur Schaffung einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung.
Als ersten Schritt gilt es daher zu prüfen, welche Aufgabenfelder und Bestimmungen der Materie der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsintegration zuzurechnen und dementsprechend in eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzordnung zu überführen sind. Dazu müßten die elementaren Grundzüge einer europäischen Wirtschaftsverfassung aus den bisherigen Vertragsbestandteilen herausgearbeitet werden. Daraus lassen sich in einem zweiten Schritt klare Kategorien für die politischen Aufgabenfelder sowie die Zuständigkeitsverhältnisse ableiten. In einem dritten Schritt sollten diese Kategorien die Neuordnung der wirtschaftspolitischen Bestandteile der Gemeinschaftsverträge ermöglichen. Im Ergebnis entsteht eine stringente Ordnung mit klaren Zuständigkeiten und einer übergeordneten ordnungspolitischen Zielrichtung.

2. Mangel an Klarheit und Stringenz der derzeitigen Wirtschaftsordnung

Die Gemeinschaftsverträge konstituieren die Europäische Union als eine auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie sowie der Achtung des Prinzips der Menschenrechte verpflichtete Rechtsgemeinschaft. Darüber hinaus definieren sie den Wirtschaftsraum der Union als offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Artikel 2 EUV legt die allgemeine Zielsetzung der europäischen Integration fest. Mit Bezug auf die WWU soll hiernach innerhalb eines Raums ohne Binnengrenzen und unter Wahrung der nationalen Identität der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gestärkt werden. Nach Art. 2 EGV ist es daher die Aufgabe der Gemeinschaft, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion in der ganzen Gemeinschaft eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, ein nichtinflationäres Wachstum und einen hohen Grad an Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen sowie den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Artikel 4 EGV liefert die Ausrichtung auf eine arbeitsteilige Wirtschaftsordnung, da die nationalen Wirtschaftspolitiken im Ganzen "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" verpflichtet sind.

Auf dieser Basis stellt Artikel 3 EGV die dazu erforderlichen Aufgabenfelder über verschiedene Zuständigkeitsebenen in einen mehr oder minder funktionalen Zusammenhang. Der Erfolg der europäischen Wirtschaftsintegration ist insbesondere durch die in Artikel 3 dargelegte gemeinsame Binnenmarktpolitik auf Grundlage der vier Marktfreiheiten, des Prinzips der Nichtdiskriminierung, der gegenseitigen Anerkennung sowie den Bestimmungen des europäischen Wettbewerbsrechts möglich geworden. Diese Prinzipien tragen in besonderer Weise dem Grundsatz der Subsidiarität nach Artikel 5 EGV Rechnung. Durchführungsbestimmungen und Ausnahmeregeln vom Binnenmarktrecht finden sich in Artikel 14 EGV sowie Artikel 16 und 30 EGV. Der Grundsatz der Errichtung einer Zollunion ist bereits in Artikel 3 dargelegt und wird in den Artikeln 23-31 EGV konkretisiert.
Darüber hinaus leitet sich die Binnenmarktpolitik und besonders das Prinzip der Nichtdiskriminierung von dem gemeinsamen Wettbewerbsrecht (Artikel 81-89 EGV) sowie dem Verfahren zur gemeinsamen Rechtsangleichung ab (Art. 94-97). Eine ordnungspolitische Ausrichtung auf wirtschaftspolitische Zielsetzungen erfahren die Mitgliedstaaten durch die Koordinierungsbestimmungen nach Artikel 98-104 EGV. Die gemeinsame Währungspolitik markiert diesbezüglich eine weitreichendere Verdichtung der wirtschaftspolitischen Handlungszusammenhänge, die in ihrer Anwendung nach Art. 105-124 EGV besonders für die Teilnehmer der Währungsunion relevant ist.

Einen die Binnenmarktpolitik ergänzenden Charakter haben Aufgabenfelder wie die Agrarpolitik (Art. 32-38 EGV), die Industriepolitik (157 EGV) und die Strukturpolitik (158-162 EGV). Sie alle werden von der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten gemeinsam ausgeführt. Im Bereich der Förderung von Forschung und Entwicklung (Art 163-173 EGV) der Sozial- und Bildungspolitik (136-150 EGV) sowie der Beschäftigungspolitik (125-135 EGV) tragen die Mitgliedstaaten die alleinige Verantwortung und unterliegen allenfalls gemeinsamen Koordinierungsvorgaben.

Im Gesamtzusammenhang liegt der europäischen Wirtschaftsintegration das ordnungspolitische Leitbild einer marktliberalen Wirtschaftsordnung zugrunde. Dies wird vor allem an den grundlegenden Zielsetzungen und den zentralen Bestimmungen des Binnenmarktrechts deutlich. Dieser Wesenszug soll mit der geplanten Aufnahme der Charta der Grundrechte im Zuge der bevorstehenden Vertragsrevision noch verstärkt werden. Die politische Rechtsordnung und die wirtschaftliche Ordnung sollen sich demnach gegenseitig ergänzen.

Das Hauptproblem der Vertragsgrundlagen ist, dass Ziele, Aufgabenfelder und Durchführungsbestimmungen nebeneinander stehen, ohne dass eine Kontext bezogene beziehungsweise hierarchische Trennung erfolgt. Dadurch geht der direkte vertragliche Bezug sowie die gemeinsame und für alle Mitgliedstaaten und Bürger verbindliche und nachvollziehbare Zielrichtung verloren. Insbesondere wenn es um die Umsetzung der allgemeinen Zielsetzungen geht, finden sich Widersprüche und nicht näher definierte Zuständigkeitsverhältnisse zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten. Dies führt soweit, dass explizite Gemeinschaftsaufgaben und -ziele definiert werden, die dazugehörigen Aufgabenumschreibungen allerdings kaum für gemeinschaftliche Problemlösungen sprechen (z.B. Industrie, Sozial- und Beschäftigungspolitik). Die inhaltliche Verknüpfung einzelner Aktionsfelder wird dadurch erschwert, dass nicht nur Zielsetzungen, sondern auch Zuständigkeiten widersprüchlich geregelt sind. Hinsichtlich der zunehmend erforderlichen politikfeldübergreifenden Koordinierungsprozesse innerhalb der WWU-Verfahren kann sich dies als nachteilig erweisen. Eine Systematisierung der Grundzüge einer europäischen Wirtschaftsverfassung, die auf Basis des Artikels 3 EGV ansetzt und mit einer gemeinsamen ordnungspolitischen Zielrichtung zu verbinden wäre, sollte diesen Defiziten Rechnung tragen und sie im Sinne von mehr Effizienz, Transparenz, Legitimation und Bürgernähe auflösen.

3. Vertragliche Strukturierung und Neuordnung der Europäischen Wirtschaftsverfassung

Elementar für eine Reform der konstitutionellen Bestimmungen der europäischen Wirtschaftsverfassung ist eine einheitliche Kompetenzabgrenzung sowie eine klar nachvollziehbare Zielsetzung für die nachgelagerten Politikbereiche. Auf der Grundlage dieser, für die weitere Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsintegration maßgeblichen ordnungspolitischen Zielrichtung und Kompetenzzuweisung sollten die Ziel-Mittel-Bestimmungen zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten eindeutig sein. Dabei sollte die jeweilige Intention und Reichweite europäischer Eingriffsbefugnisse in den Blick genommen werden. Es wäre daher besser, eine Neuordnung der Politikfelder anhand klar definierter Aufgabenkategorien zu erreichen als nach dem bisherigen Prinzip der Einzelermächtigung. Es gilt, die vorhandenen Aktionsfelder und Entscheidungsbefugnisse entlang ihrer unterschiedlichen Ermächtigungsgrundlage beziehungsweise Eingriffsintensität fünf Hauptkategorien zuzuordnen:

1. Verbindliche ordnungspolitische Zielsetzung: Hierunter fallen alle Bestimmungen, welche die europäische Wirtschaftsordnung mitsamt ihrer ordnungspolitischen Zielrichtung betreffen. Vertragsänderungen auf diesen Gebieten bedeuten einen substantiellen Eingriff in die Grundlagen der europäischen Wirtschaftsordnung.

2. Ausschließliche Politiken: Dies sind die Politikbereiche, die zur Verwirklichung der Zollunion, im Rahmen der Währungsunion sowie zur Gewährleistung des Binnenmarktes vollständig auf die europäische Ebene übertragen worden sind.

3. Gemeinsame Politiken: Hier handelt es sich um jene Aufgabenfelder, die zur Umsetzung der elementaren Vertragsziele - wie der Vollendung des Binnenmarktes und den vier Marktfreiheiten, einer nachhaltigen Umweltpolitik, des Diskriminierungsverbots oder des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts - auf Grund eines grenzüberschreitenden Bezuges gemeinsam ausgeübt werden.

4. Ergänzende Politiken: Die EU wird in Bereichen wie Sozialpolitik, Bildung, Kultur, Gesundheit, Verbraucherschutz, Industrie oder Forschung und Entwicklung unterstützend, fördernd und ergänzend tätig, und zwar insoweit, wie eine EU-weite Regelung einen Mehrwert für die Mitgliedstaaten ergibt.
5. Koordinierte Bereiche: Dies sind explizit keine Gemeinschaftskompetenzen. Die Europäische Union und ihre Organe können unterstützend beteiligt werden, stehen aber letztlich nicht in der politischen Verantwortung.

Eine Neuordnung der Verträge entlang dieser Systematik würde erheblich mehr Transparenz schaffen, ohne dass dafür eine substantielle Umverteilung der heutigen Kompetenzbestände notwendig wäre. Zudem bleibt die Weiterentwicklung des politisch-institutionellen Gefüges auf dieser Grundlage möglich - sei es durch die Überführung spezifischer Aufgaben von einer in eine andere Kategorie, sei es durch die Zuordnung bestimmter Entscheidungsverfahren zu den einzelnen Kategorien. Den formalen Ansatzpunkt für die Kategorisierung der europäischen Wirtschaftsverfassung bietet die Aufgabenliste des Artikels 3 EGV. Dadurch soll eine Fokussierung auf das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Marktes erreicht werden. Auf Basis dieses Ansatzes wird im Folgenden eine Systematisierung der bisherigen Vertragsgrundlagen vorgenommen. Dies geschieht unter Anwendung des oben dargelegten Schemas der fünf Hauptkategorien auf die vertraglichen Bestimmungen der europäischen Wirtschaftsordnung. Daraus ergibt sich folgende Neuordnung der europäischen Wirtschaftsverfassung:

Verbindliche ordnungspolitische Zielsetzung

Das aus den Artikeln 2 EUV, 2 EGV und 4 EGV zusammengesetzte ordnungspolitische Leitbild einer offenen, dem Wettbewerb sowie der Sozialstaatlichkeit verpflichteten Marktwirtschaft sollte als Richtschnur einer effektiven Vertragsreform im Sinne einer Vereinfachung der europäischen Wirtschaftsverfassung dienen. Diesem Leitbild liegt das zentrale Ziel der Gewährleistung und Vollendung des europäischen Binnenmarktes zugrunde, in dem ein freier Wettbewerb sowie die Bewahrung wirtschaftlicher und sozialer Kohäsion gleichermaßen verwirklicht sind. Ferner sind die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft entsprechend der zentralen Zielrichtung der europäischen Wirtschaftsordnung für die Durchführung einer Wirtschaftspolitik verantwortlich, die auf einer engen Koordinierung der dezentral verwalteten Wirtschaftspolitik, dem gemeinsamen Binnenmarkt sowie der Einhaltung gemeinsamer Ziele beruht. Aus den Zielbestimmungen des Artikels 4 EGV leiten sich neben dem Leitbild einer auf Wettbewerb basierten Marktwirtschaft weitere ordnungspolitische Grundsätze ab: stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz. Dieses Zielbündel ist maßgebend für sämtliche wirtschaftspolitischen Tätigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. Werden diese Zielsetzungen um die eines hohen Maßes an Beschäftigung und sozialem Schutz aus Artikel 2 EUV ergänzt, so resultiert daraus eine ganz konkrete Handlungsorientierung für eine gesamtwirtschaftliche Stabilitäts- und Wachstumspolitik in den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft. In der Summe spiegelt sich darin die Besonderheit des europäischen Gesellschaftsmodells wider, da die Mitgliedstaaten nicht nur zu einer freien marktwirtschaftlichen Grundordnung, sondern ebenfalls auf den Wert europäischer Solidarität verpflichtet werden.

Ausschließliche Politiken

Aufgrund ihres konstitutionellen Charakters wären die Bestimmungen zur Gewährleistung des Binnenmarktes in den Bereich der ausschließlichen Politiken einzugliedern. Die für die Ausgestaltung der gemeinschaftlichen Wirtschaftsordnung sowie für die Funktionsweise des Binnenmarktes und der WWU maßgeblichen Politikfelder haben sich an dem gemeinsamen ordnungspolitischen Leitbild zu orientieren. Die zentralen Bestimmungen einer offenen auf freiem Wettbewerb basierenden Wirtschaftsordnung leiten sich bereits aus Artikel 3 EGV ab. Sie umfassen in erster Linie die ausschließlichen Politiken und damit den Bereich der Binnenmarktpolitik im Sinne der Erfüllung der vier Grundfreiheiten des Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehrs. Die Binnenmarktpolitik und ihre Handlungsprinzipien dienen somit als Bezugspunkt der gemeinschaftlichen und nationalen Aufgabenteilung. Demnach wäre das System der Wettbewerbssicherung den Bestimmungen der Binnenmarktpolitik zuzurechnen. Denn diese Bestimmungen erhalten erst durch die europäische Wettbewerbsaufsicht ihre gemeinschaftsweite Geltungsreichweite. Entsprechend ist auch die gemeinsame Währungs- und Geldpolitik hier einzuordnen, da die Mitgliedstaaten diesen Bereich mit der Währungsunion vollständig auf Gemeinschaftsebene übertragen haben.

Gemeinsame Politiken

Anknüpfend an die ausschließlichen Politiken lässt sich die in dezentraler Verantwortung verbliebene Wirtschaftpolitik zielführend an den konstitutionellen Vorgaben der zusammengeführten Bestimmungen aus Artikel 2 EUV, den Artikeln 2 EGV und 4 EGV sowie den gemeinsamen Binnenmarktbestimmungen ausrichten. Denn gerade die Aufgaben, Verfahren und Regeln, welche die Vollendung des Binnenmarktes zum Ziel haben, gehören in den Bereich der gemeinsamen Politiken und sollten über die gemeinsamen Bestimmungen nach Artikel 98 ff. EGV koordiniert werden. Nach Artikel 99 EGV sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ihre Wirtschaftspolitiken als eine "Angelegenheit von gemeinsamem Interesse" zu betrachten und im Rat entsprechend zu koordinieren. Eine klare Ausrichtung an den Grundsätzen der europäischen Wirtschaftsordnung würde das gemeinschaftiche Zielbündel - stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz und ein hohes Beschäftigungsniveau - zum "magischen Fünfeck" der gesamtwirtschaftlichen Koordinierung machen.

Dadurch, dass die gemeinsame Geldpolitik in den Bereich der ausschließlichen Aufgaben fiele, würde mit Blick auf die Mitgliedstaaten der WWU das Ziel der Sicherung der Preisstabilität eine Kontext relevante Überordnung erfahren. Zusätzlich könnte die explizite Ausrichtung der dezentral verantworteten Wirtschafts- und Finanzpolitik an dem Prinzip der Geldwertstabilität für den Kreis der an der WWU teilnehmenden Staaten diese verstärkt binden. Für die Mitgliedstaaten der WWU wäre deshalb im Rahmen der Verfahrensregeln der multilateralen Überwachung sowie des Stabilitäts- und Wachstumspaktes eine stärkere gemeinschaftliche Verpflichtung auf das monetäre Stabilitätsziel vorzusehen.

Die Aufnahme der Sonderbestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in die Kategorie der gemeinsamen Aufgaben würde die multilaterale Haushaltsüberwachung vereinfachen. Die grundsätzliche Zielsetzung im Rahmen des "magischen Fünfecks" zur Herstellung "gesunder öffentlicher Finanzen" würde zugleich greifbarer und erhielte einen für alle Teilnehmer der Währungsunion höheren Stellenwert. Insgesamt käme dies der Vertiefung der wirtschaftpolitischen Zusammenarbeit der WWU-Staaten zugute. Unbeschadet der restlichen vertraglichen Bestimmungen könnten die Mitgliedstaaten somit die finanzpolitische Koordinierung im Rahmen der für sie geltenden Sonderbestimmungen des Stabilität- und Wachstumspaktes verbessern. Gleichzeitig bliebe davon die gesamtwirtschaftliche Koordinierungsvorschrift für alle EU-Staaten nach Art. 99 EGV unberührt. Handlungsleitend und für den nationalen Politikformulierungsprozess ausschlaggebend wären in jedem Fall die konstitutionellen Bestimmungen des Binnenmarkt- und Wettbewerbsrechts, welche dem Bereich der "ausschließlichen Politiken" zugeordnet wären.

Dem europäischen Gesellschaftsmodell entsprechend, wird der Grundsatz einer freien Marktwirtschaft zusätzlich um das Leitbild sozialer und wirtschaftlicher Kohäsion ergänzt. Diesbezügliche Grundlagen sind in Artikel 3 EGV sowie den daraus abgeleiteten Gemeinschaftsaufgaben enthalten. Daher sollten distributive und regulierende Aufgabenfelder wie beispielsweise die Strukturpolitik und die Agrarpolitik sowie die Durchführungsbestimmungen ebenfalls in den Bereich der gemeinsamen Aufgaben übernommen werden. Dabei dienen das Prinzip der Subsidiarität (Artikel 5 EGV), das Verfahren der gemeinsamen Rechtsangleichung (Art. 94-97) sowie der Nichtdiskriminierung als Richtschnur für die allgemeinen Durchsetzungsbestimmungen. In den Bereich der gemeinsamen Aufgaben könnten zudem die gemeinschaftlichen Ausnahmeregeln nach Artikel 16 EGV und 30 EGV aufgenommen werden, da sie ausschließlich die Materie der Binnenmarktvollendung betreffen und nur aufgrund nationaler wirtschaftspolitischer Besonderheiten geltend gemacht werden können. In der Summe entstünde somit eine transparentere und aus den Zielbestimmungen der Binnenmarktvollendung ableitbare europäische Wirtschaftsordnung, die für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen verbindlich wäre und zugleich eine verbesserte wirtschaftliche Konvergenz ermöglichen würde.

Ergänzende Politiken

Die im Zuge der EU-Wachstumsstrategie hinsichtlich der Förderung von sozialer Integration und Beschäftigung noch stärker zum Tragen kommenden Gemeinschaftsaufgaben in den Bereichen Sozial,- und Industriepolitik sowie der Förderung von Forschung und technologischer Entwicklung sollten in Einklang mit den Binnenmarktbestimmungen stehen. Sie besitzen primär unterstützenden und flankierenden Charakter der gemeinsamen Marktintegration, weshalb sie im Gefüge einer europäischen Wirtschafts- und Währungsordnung als nachgelagerte "Ergänzungsaufgaben" beziehungsweise "ergänzende Politiken" angesehen werden können. Auch wenn sie aufgrund der Querschnittsverzahnung von Zielsetzungen an Bedeutung gewinnen werden, bleiben für unbestimmte Zeit die Mitgliedstaaten in letzter Instanz für ihre Umsetzung verantwortlich.

Koordinierte Bereiche

In die Kategorie der "koordinierten Bereiche" sind solche Politikbereiche aufzunehmen, die explizit in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegen, dennoch durch europäische Koordinierungsverfahren wie den Köln-Prozess sowie die Lissabon-Strategie in einem besonderen Abstimmungsverhältnis stehen und eine gemeinsame Zielrichtung erfahren. Auch hier ist die gemeinschaftlich vorgegebene grundlegende Zielrichtung maßgebend, wobei die Mitgliedstaaten alleinige Handlungskompetenz besitzen. Die Gemeinschaft wird hier über spezifische Verfahren und Organe allenfalls unterstützend tätig. Derzeit ist die Beschäftigungspolitik der gemeinschaftlichen Koordinierung zuzurechnen.

4. Ausblick

Die Europäische Union steht unter massivem Reformdruck, denn sie hat sich große Ziele gesetzt: Bis zum Jahr 2010 soll der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Reformstaaten abgeschlossen sein, die politische Gestalt der Union feste Konturen annehmen und der Erfolg der Wirtschafts- und Währungsunion soweit konsolidiert sein, dass in ihrer Sogwirkung Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum aufsteigt. Misslingen diese Integrationsvorhaben, könnte die Fortschreibung des bisherigen Musters der europäischen Integration bestehend aus "Vertiefung und Erweiterung" auf dem Spiel stehen. Die Mitgliedstaaten haben die Wahl zwischen der Vertiefung der gemeinschaftlichen Handlungsfähigkeit und der Stärkung zwischenstaatlicher Kooperation. Angesichts immer komplexer werdender Handlungszusammenhänge in Politik und Wirtschaft sowie Aufgaben, die grenzüberschreitender Problemlösungen bedürfen, ist die Intensivierung der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit sicherlich die zukunftsweisendere Variante.

Ein Mehr an politischer Integration bedeutet allerdings auch, dass so fundamentale Fragen wie die Neuordnung der europäischen Finanzverfassung nicht an mitgliedstaatlichen Widerständen und Egoismen scheitern dürfen. Eine vertiefte politische Zusammenarbeit bedingt gerade den Transfer weitere Kompetenzen auf die Gemeinschaftsebene. Ein Zuwachs an Kompetenz und Verantwortung heisst aber auch, dass die Europäische Union über mehr Mittel zur Gestaltung originärer Gemeinschaftsaufgaben verfügen sollte. Über diesen Weg ist eine Ausweitung gemeinschaftlicher Gestaltungskompetenz denkbar. Ein erster Schritt wäre die Reform der bisher Ausgaben intensivsten Aufgabenbereiche: eine Reform der gemeinsamen Agrar- und Strukturpolitik. Handlungsleitend für einen Systemwandel in diesen Bereichen sollten sowohl die elementaren Grundzüge der gemeinsamen Wirtschaftsverfassung sein als auch die in Zukunft zu erwartenden Herausforderungen, welche in einem großen Europa an diese beiden Politikfelder gestellt werden. In der Konsequenz wären nicht nur die ordnungspolitische Ausrichtung, sondern auch die Struktur und der Umfang der dabei zur Verfügung stehenden Finanzmittel zu überdenken.
In einem zweiten Schritt könnten die bereits vorhandenen Transferleistungen in einem kohärenten Transfersystem zusammengefasst werden. Darauf aufbauend wäre die Frage nach der Zusammensetzung des EU-Haushalts sowie nach der Erhebung und Verwendung eigener Finanzmittel neu zu stellen. Diese Aspekte könnten beispielsweise konstruktiv mit der Vertragsrevision im Jahr 2004 verbunden werden. Dabei erscheint es angeraten, die bisherige Strukturpolitik in einem vertikalen Finanzausgleich zusammenzufassen. Dies würde nicht nur der Effektivierung der Strukturpolitik zugute kommen, sondern zugleich einen entscheidenden Schritt in Richtung Neuausrichtung der konstitutionellen Kompetenzordnung bedeuten. Mit der Entwicklung einer effizienten und solidarischen EU-Finanzverfassung würde sich die gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit sichtlich erhöhen - ein Reformerfordernis, das sich angesichts einer größeren und heterogeneren Union der 27+ Mitgliedstaaten mit nie dagewesener Dringlichkeit stellt.

Die Neuordnung der Verträge sollte die Frage nach der Zukunft der europäischen Wirtschafts- und Finanzverfassung berücksichtigen. In diesem Sinne sollte der Entwurf einer europäischen Wirtschafts- und Finanzverfassung als elementarer Bestandteil eines Grundvertrages für die Europäische Union angesehen werden und in die Arbeit des Konvents zur Revision der Gemeinschaftsverträge mit einfließen.

Positionen >>


 


 
           
© 1998-2004 - Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) - Ludwig-Maximilians-Universität München
Aktualisiert am: 05.12.2002   Impressum | Design by [meteme.de]   Seite drucken | Seitenanfang