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P o s i t i o n
Europas Zukunftsfähigkeit
Herausforderungen, Grundlagen, Perspektiven
Werner Weidenfeld
und Josef Janning - Dezember
2001*
I. Die Herausforderung - Leistungsansprüche an Europa
Europa ist nicht der Ort der kleinen Dinge. Wohlfahrt und Sicherheit,
klassische und elementare Leistungsbereiche des Staates, sind heute ohne
die Europäische Union nicht mehr zu erbringen. Damit gehören
die Integrationspolitik, ihre Verfahren und Institutionen zur Substanz
und nicht zum Ornament des Politischen in Europa. Jedes große Thema
der Gesellschaften auf dem Kontinent enthält zugleich eine Anfrage
an den Gestaltungsbeitrag der EU, da kaum eine Frage den Zusammenhang
der Europäer unberührt lässt.
So betreffen auch die Herausforderungen des internationalen Terrorismus
die europäische Handlungsebene unmittelbar: Die Neubestimmung des
Zusammenhangs von innerer und äußerer Sicherheit ist ohne die
Verknüpfung von GASP und ESVP mit der seit 1999 betriebenen Gemeinschaftsbildung
im Bereich Justiz und Inneres nicht zu denken. Europa muss hier handeln,
damit die Stärke der Europäer - die Vielfalt der Räume,
Zusammenhänge und Ordnungen - nicht zur Schwäche wird. Zu den
Folgen des 11. September gehören daneben steigende Leistungserwartungen
an die "harte Sicherheit" in Europa. Die Staaten Europas benötigen
nicht nur die Fähigkeit, unter eigener Führung Frieden in ihrer
unmittelbaren Nähe zu schaffen und zu halten, Bürgerkriege und
ethnische Gewalt zu kontrollieren. Sie benötigen zugleich die Instrumente
zum Schutz ihrer Interessen, ihrer Werte und ihrer Partner überall
dort, wo diese elementar verletzt werden. Zwar wird sich die Sicherheitsleistung
Europas auf Beiträge der Staaten stützen müssen, doch offensichtlich
ist, dass keiner der Staaten hinreichende Fähigkeiten auf Dauer allein
unterhalten kann.
Europa kommt nicht zur Ruhe. Die neuen Aufgaben in der Sicherheit drängen
sich in den Vordergrund einer Agenda, die mit großen Aufgaben und
ambitionierten Vorhaben reich bestückt ist:
-
die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion mit der Ausgabe
des europäischen Geldes zum 1. Januar 2002;
-
der in Lissabon im März 2000 durch den Europäischen Rat
eingeleitete Prozess zur Ausbildung einer modernen Wissensgesellschaft,
der den Binnenmarkt zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten
Wirtschaftsraum der Welt machen soll;
-
der Abschluss der ersten Erweiterungsverhandlungen bis Ende 2002
und der folgende Beitritt vieler neuer Mitgliedstaaten;
-
der zügige Ausbau der Europäischen Union als Sicherheitsgemeinschaft
durch den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts bis 2004;
-
die Weiterführung der EU-Strukturreformen in Konvent und Regierungskonferenz
bis 2004.
Wollen die Entscheidungsträger Europas diese Aufgaben erfolgreich
bewältigen, so sind sie auf eine breite Zustimmung der Bürger
angewiesen. Wesentlich für die Akzeptanz europäischen Regierens
in dieser Schlüsselphase der Integrationspolitik wird sein, dass
klare politische Prioritäten gesetzt werden und eine bessere Zurechenbarkeit
politischer Verantwortung erreicht wird. Erforderlich ist ein verständliches
und sachgerechtes Vertragsfundament, das den wesentlichen Anforderungen
an ein demokratisches Gemeinwesen genügt. Die Klärung der Arbeitsteilung
zwischen EU und Mitgliedstaaten, die Vereinfachung der Verträge unter
Einbeziehung der Grundrechtscharta sowie eine stärkere Legitimation
der Entscheidungsverfahren bilden die zentralen Ansatzpunkte einer Reform,
die Effizienz, Transparenz und Demokratie für Europa herstellt.
II. Die Grundlagen - Europas politische Ordnung
Die Europäische Union steht unter ständigem Reformdruck. Integration
vollzieht sich als ein Prozess der schrittweisen Anpassung an neue Ziele
und Aufgaben. Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft
für Kohle und Stahl kennzeichnet jeden Reformschritt das oftmals
schwierige Aushandeln von Kompromissen unter den Mitgliedstaaten. Das
Ergebnis dieser Aushandlungslogik ist ein Mehrebenensystem, in dem sich
verschiedene Handlungsebenen in einem komplizierten Zusammenhang ergänzen.
So sind unübersichtliche Verflechtungssachverhalte und Mischzuständigkeiten
entstanden. Im Ergebnis dieser Entwicklung beruht die EU heute auf mehreren
Verträgen mit Hunderten von Artikeln sowie dazugehörigen Protokollen
und Erklärungen. Auch innerhalb der einzelnen Aufgabenbereiche wurden
die entsprechenden Regelungen vielfach weiter ausdifferenziert und an
unterschiedlichen Stellen behandelt, so dass nicht leicht nachvollziehbar
ist, über welche Zuständigkeiten die Europäische Union
heute eigentlich verfügt. Daher wächst das Unbehagen der Bürger
wie auch der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen gegenüber Zentralismus,
Handlungsschwäche und Ineffizienz der EU.
Um dieser Entwicklung entgegen zu wirken, muss das europäische politische
System nicht neu erfunden werden. Vielmehr geht es darum, das ihm zugrunde
liegende Ordnungskonzept sichtbar zu machen und verständlich zu gestalten.
In den vielen Einzelschritten der Integrationsentwicklung der letzten
Jahrzehnte steckt eine Vernunft europäischer Politikgestaltung, die
als die Summe politischer Übereinstimmung der Europäer Ausdruck
finden muss, wenn sie Zustimmung erzeugen soll. Daher sollten sich die
Reformen auf der Grundlage der Zukunftserklärung von Nizza vorrangig
auf drei Bereiche konzentrieren:
-
die Systematisierung des Kompetenzgefüges,
-
die Effektivierung der Politik,
-
die Vereinfachung der Vertragsgrundlagen.
Systematisierung des Kompetenzgefüges
In früheren Phasen der Europapolitik war die Kombination aus allgemeinen
Zielbestimmungen und konkreten Einzelermächtigungen in den Verträgen
eine wesentliche Voraussetzung für die dynamische Entwicklung des
europäischen Einigungsprozesses. Heute, wo wahrscheinlich bereits
drei Viertel einer finalen politischen Ordnung erreicht sind, erzeugt
diese Dynamik der Gemeinschaftsbildung Widerstände, die eine Weiterentwicklung
europäischer Handlungsfähigkeit im Unwillen über frühere
Kompetenzübertragungen dort behindern könnte, wo diese künftig
erforderlich werden wird.
Klarer als früher zeigen sich die Probleme, die mit der geltenden
Zuständigkeitsregelung verbunden sind. Ihre Verteilung folgt keiner
erkennbaren Systematik und es besteht Unklarheit über die Reichweite,
die Instrumente und Verfahren wie die Rechtswirkung der europäischen
Gesetzgebung. Allein die grundlegende Aufgabenliste des Artikel 3 EG-Vertrag
benennt in 21 Unterpunkten insgesamt neun verschiedene Zuständigkeitskategorien:
Verbote, Gemeinsame Politiken, Politiken ohne nähere Bezeichnung,
Maßnahmen, die Angleichung von Bestimmungen, Koordinierung, Stärkung,
Förderung oder Beiträge. Die nächste Regierungskonferenz
steht vor der Aufgabe, dieses Geflecht europäischer Zuständigkeitsregelungen
zu ordnen und die Struktur eines europäischen Kompetenzgefüges
zu bestimmen.
Als Ansatz für eine nachvollziehbare und politisch durchsetzbare
Arbeitsteilung bietet sich eine Systematisierung von Zuständigkeiten
an, die die jeweilige Intention und Reichweite europäischer Eingriffsbefugnisse
in den Blick nimmt. Sie ordnet die einzelnen Politikfelder nicht wie bisher
nach dem bisherigen Prinzip der Einzelermächtigung, sondern anhand
klar definierter Aufgabenkategorien. Fast alle der heute vorhandenen Entscheidungsbefugnisse
lassen sich fünf Hauptkategorien zuordnen:
1. Konstitutionelle Bereiche: Hierunter fallen alle Bestimmungen, die
die Aufgabenverteilung, die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten
oder den Beitritt von Mitgliedern regeln. Vertragsänderungen auf
diesen Gebieten bedeuten einen substantiellen Eingriff in die Grundlagen
des Einigungsprozesses.
2. Ausschließliche Politiken: Dies sind die Politikbereiche, die
zur Verwirklichung von Zollunion, Binnenmarkt und Währungsunion vollständig
auf die europäische Ebene übertragen worden sind.
3. Gemeinsame Politiken: Hier handelt es sich um jene Aufgabenfelder,
die zur Umsetzung der elementaren Vertragsziele - wie den vier Marktfreiheiten,
einer nachhaltigen Umweltpolitik, des Diskriminierungsverbots oder des
wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts - auf Grund eines grenzüberschreitenden
Bezuges gemeinsam ausgeübt werden.
4. Ergänzende Politiken: Die EU wird in Bereichen wie Sozialpolitik,
Bildung, Kultur, Gesundheit, Verbraucherschutz, Industrie oder Forschung
und Entwicklung unterstützend, fördernd und ergänzend tätig,
und zwar insoweit, wie eine EU-weite Regelung einen Mehrwert für
die Mitgliedstaaten ergibt.
5. Koordinierte Bereiche: Dies sind explizit keine Gemeinschaftskompetenzen.
Die Europäische Union und ihre Organe können unterstützend
beteiligt werden, stehen aber letztlich nicht in der politischen Verantwortung.
Derzeit steht die Beschäftigungspolitik im Vordergrund der Koordinierung,
in diese Kategorie fallen auch Bereiche wie der Katastrophenschutz oder
der Fremdenverkehr.
Eine Neuordnung nach diesem Ansatz schafft erheblich mehr Transparenz,
ohne dass dafür eine substantielle Umverteilung der heutigen Kompetenzbestände
notwendig wäre. Veränderung und Weiterentwicklung dieses Gefüges
sind auf dieser Basis schrittweise möglich - sei es durch die Überführung
spezifischer Aufgaben von einer in eine andere Kategorie, sei es durch
die Zuordnung bestimmter Entscheidungsverfahren zu den einzelnen Kategorien.
Konsequenzen für den Entscheidungsprozess
Ein zweites Problem, das aus dem schrittweisen Aushandeln der vertraglichen
Einzelermächtigungen folgt, liegt darin, dass dort auch die Entscheidungsregeln
gesondert und jeweils einzelfallbezogen festgelegt sind. Überschaubar
und verständlich wäre es, den Kompetenzkategorien auch die jeweils
geeigneten Verfahren als Regel zuzuweisen. Für ausschließliche,
gemeinsame und ergänzende Zuständigkeiten wäre ein genereller
Übergang zum Mitentscheidungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit
im Rat als Regelverfahren der Gesetzgebung vorzusehen, damit die zunehmende
Interessenheterogenität im großen Europa die notwendigen Entscheidungen
nicht verhindert. Ein einvernehmliches Vorgehen der Mitgliedstaaten mit
Unterrichtung und möglicher Einbeziehung des Europäischen Parlaments
sowie der Kommission fände in den Feldern rein koordinierender Tätigkeiten
Anwendung. Einstimmigkeit und Ratifikationsvorbehalt sollten für
alle "konstitutionellen" Entscheidungen gelten.
Die Beschränkung auf drei Grundverfahren mit klar benannten Anwendungsbereichen
schafft zugleich mehr Ausgewogenheit im Zusammenwirken zwischen Europäischem
Parlament und Rat. Die Zuständigkeitsbereiche der Kommission werden
klar abgegrenzt. Die nationalen Parlamente behalten ihre zentrale Rolle
bei Kompetenzübertragungen und konstitutionellen Änderungen.
Eine Reform der Regelungen zur Kompetenzausübung sollte jedoch nicht
bei den Entscheidungsverfahren stehen bleiben, sondern auch die verfügbaren
Handlungsinstrumente in den Blick nehmen. Die heutige Unterscheidung zwischen
Verordnung, Richtlinie, Entscheidung und Empfehlung orientiert sich an
keinem stringenten Ordnungsmuster. Systematischer wäre, nur im Bereich
der ausschließlichen und gemeinsamen Politiken über Gesetze
und verbindlichen Entscheidungen zu regieren. Dort, wo die EU über
ergänzende Kompetenzen verfügt, hätte sie sich auf Rahmengesetze,
Empfehlungen oder andere Formen der Unterstützung, wie finanzielle
Fördermaßnahmen, zu beschränken. Im Bereich rein koordinierender
Aktivitäten wären entsprechend nur unverbindliche Stellungnahmen
zulässig.
Institutionelle Reformschwerpunkte
Auch eine umfassende Systematisierung der Aufgabenverteilung, wie sie
hier entwickelt wird, bietet keinen völligen Schutz gegen eine stellenweise
ausufernde Kompetenzausübung. Häufig betrifft die Kritik an
europäischer Überregulierung weniger die vertraglich geregelten
Zuständigkeiten der europäischen Ebene selbst als vielmehr ihre
Wahrnehmung durch die Institutionen. In vielen Fällen würde
es ausreichen, wenn der europäische Gesetzgeber Kurskorrekturen vornimmt,
ohne dass dafür Vertragsänderungen erforderlich wären.
Dies gilt beispielsweise für die Felder der Agrar- und Strukturpolitik
oder der europäischen Beihilfenaufsicht, über deren Neuordnung
in Deutschland besonders heftig diskutiert wird. So wäre es auf der
Grundlage von Art. 37 EGV für den Gemeinschaftsgesetzgeber durchaus
möglich, agrarpolitische Kompetenzen ohne Vertragsreform auf die
Mitgliedstaaten zurück zu übertragen. Auch das europäische
Wettbewerbsrecht verdrängt - abgesehen vom generellen Beihilfenverbot
- die Mitgliedstaaten nicht von vornherein aus ihrer Zuständigkeit.
Die konkrete Ausgestaltung dieses Aufgabengebietes erfolgt vielmehr erst
über europäische Rechtsetzung.
Gerade deshalb spielen Kommission und Rat eine Schlüsselrolle bei
der Verwirklichung einer subsidiaritätsgerechten Arbeitsteilung.
Das Nebeneinander einer Vielzahl von Fachministerräten hat bislang
eine extensive Nutzung vertraglicher Handlungsbefugnisse und die Verabschiedung
sich widersprechender Entscheidungen begünstigt. Die Begrenzung der
Anzahl der Ressortministerrunden sowie ihre klare Unterordnung unter den
Allgemeinen Rat als der wesentlichen Koordinations- und Gesetzgebungsinstanz
würde die Abstimmung und Kohärenz europäischer Gesetzgebungsaktivitäten
deutlich verbessern. Für den Erfolg solcher Reformen wäre es
günstig, wenn sie auf Seiten der Mitgliedstaaten durch eine effektive
innere Koordination der Europapolitik ergänzt würden - unabhängig
davon, ob dafür das Amt eines Europaministers vorgesehen wird oder
andere Wege gefunden werden.
Im Falle von Zuständigkeitskonflikten sollte auch künftig der
Europäische Gerichtshof verantwortlich sein. Die Schaffung neuer
Institutionen bietet hier keinen erkennbaren Zugewinn für die Effizienz
und Legitimität der Streitschlichtung. Zwar könnte die rechtliche
Klärung auch einem neuen Kompetenzgericht überlassen werden,
das sich ganz oder teilweise aus nationalen Verfassungsrichtern zusammensetzt.
Unklar bleibt jedoch, worin dessen Mehrwert gegenüber der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs läge. Ähnliches gilt für
Vorschläge, die auf die Einrichtung eines europäischen "Subsidiaritätsausschusses"
zur politischen Vorabklärung von Kompetenzkonflikten abzielen, dem
Mitglieder der nationalen Parlamente angehören sollen. Letztlich
liefe dies darauf hinaus, eine dritte Kammer auf EU-Ebene und damit noch
kompliziertere Entscheidungsstrukturen zu schaffen.
Vereinfachung der Verträge
Ein verständliches Kompetenzgefüge zählt zu den Merkmalen
einer transparenten politischen Ordnung. Es steht jedoch nicht allein,
sondern sollte Teil einer im Ganzen lesbaren Verfassung der Europäischen
Union sein. Die Konsolidierung des historisch gewachsenen Bestands der
europäischen Integration in einem Dokument, das die Ziele und Schranken,
die Zuständigkeiten und Verfahren wie die Institutionen umfasst,
gehört zu den bisher unerfüllten Ansprüchen an die Europapolitik.
Die Vereinfachung der Verträge ist nicht einfach eine redaktionelle,
technische Aufgabe - es geht vielmehr darum, die bereits erreichte konstitutionelle
Qualität der Integration greifbar zu machen. Damit wird die Grundlage
für die Abrundung eines europäischen Regierungssystems geschaffen,
deren Ziel die Entwicklung einer Verfassung für Europa bildet. Als
Anker dieses Prozesses bietet sich eine Zweiteilung der Verträge
an:
-
In einem Europäischen Grundvertrag sollten die maßgeblichen
Ziele, die Grundrechte und -werte, die Kompetenzordnung, das Institutionengefüge
sowie die Entscheidungsprozesse zusammengefasst werden. Die in Nizza
verabschiedete Grundrechtscharta sollte Teil des Grundvertrages werden.
Eine Änderung dieser Bestimmungen muss konstitutionellen Anforderungen
genügen und einen Ratifikationsprozess in allen Mitgliedstaaten
durchlaufen.
-
Die Vielzahl an Ausführungsbestimmungen und organisationsrechtlichen
Artikel sollten in einem gesonderten Vertragsdokument zusammengefasst
werden. Für diesen Bereich könnte ein vereinfachtes Änderungsverfahren
im Wege von Mehrheitsentscheidungen eingeführt werden.
Ein solcher Grundvertrag erleichtert es den Bürgern Europas,
die politische Ordnung der EU zu verstehen und sich mit Europa zu
identifizieren. Die europäische Gesetzgebung wäre auf der
Basis der Ausführungsbestimmungen rascher in der Lage, auf veränderte
Anforderungen zu reagieren. Wenn die Ziele, die Zuordnung und die
Prinzipien der Zuständigkeit der Europäischen Union im ersten
Teil präzise genug geregelt sind, ist mit einer Zweiteilung der
Verträge auch nicht die Gefahr einer schleichenden Zentralisierung
verbunden. Die Regierungen der Mitgliedstaaten und die nationalen
Parlamente behalten ihre entscheidende Rolle in der Fortentwicklung
der Integration.
III. Die Entwicklungslinien - Konsequenzen der zentralen Integrationsprojekte
Kompetenzfragen und vertragliche Fortentwicklung sind die eine Seite
der Zukunftsgestaltung europäischer Politik. Die andere Seite besteht
in der Fortentwicklung und der Erneuerung der Politikfelder im System
der Integration. Die Umsetzung konkreter Integrationsprojekte wie die
gemeinsame Währung und der Erweiterungsprozess verändern die
Rahmenbedingungen europäischer Politik - die Folgen dieses Wandels
werden bisher nicht hinreichend deutlich. Neue Herausforderungen an die
Leistungsfähigkeit der EU - etwa im Zusammenwachsen von innerer und
äußerer Sicherheit - erfordern strategische Antworten. Zusammen
genommen bilden sie die materielle Reformagenda Europas - die seit den
Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht 1991 unerfüllte Vollendung
der Politischen Union.
Folgewirkungen der Euro-Einführung
Mit der Ausgabe des Euro Anfang 2002 fallen für die Menschen in
zwölf Staaten greifbar die Grenzen der nationalen Währungsräume.
Europa wird neben den USA zum führenden Währungsraum der Weltwirtschaft.
Das hat Folgen, die bei einer Neuordnung der Arbeitsteilung und der politischen
Verantwortung berücksichtigt werden müssen. Dies betrifft die
Verbesserung der Mechanismen der wirtschaftspolitischen Koordinierung
zwischen den Mitgliedstaaten ebenso wie die Frage einer einheitlichen
Außenvertretung des Euro in internationalen Organisationen und gegenüber
Drittstaaten. Dazu sollte eine Klärung der Rollenverteilung zwischen
dem Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der 15 EU-Mitgliedstaaten
und der auf die zwölf WWU-Teilnehmer begrenzten Eurogruppe erfolgen.
Koordinierung und Außenvertretung der Wirtschafts- und Finanzpolitik
sollten in einer Hand gebündelt werden.
Entfaltung des Europäisches Gesellschaftsmodells
Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Beschäftigung, Ausbildung und
soziale Stabilität werden zu Schlüsselfragen der europäischen
Politik. Europas Zukunft liegt in der Entfaltung der Wissensgesellschaft
und den Fähigkeiten der Menschen, im großen Binnenmarkt der
erweiterten EU produktiv zu werden. Dazu sollte die Europäische Union
als "sozialpolitische Lerngemeinschaft" den Austausch im Wege
von Leistungsvergleichen fördern, um besonders Erfolg versprechende
Lösungsmodelle zu ermitteln. Die Mitgliedstaaten behalten die politische
Verantwortung und bedienen sich der neuen, offenen Methode der Koordinierung.
Die Kommission übernimmt bisher eine Rolle nur bei der Ermittlung
der Vergleichsdaten. Sie sollte stärker auch die daraus folgenden
Empfehlungen mitformulieren und vor allem ihre erfolgreiche Umsetzung
in den Mitgliedstaaten überprüfen und bewerten können.
Die offene Methode der Koordinierung wird auf europäischer Ebene
angewendet, daher sollte sie auch ihren Platz im Handlungsrahmen der EU
finden und mit entsprechenden Verfahren versehen werden. Bleibt die Identifizierung
von "best practices" ohne Folgen in der Reformpolitik der Staaten,
so wird eines der interessantesten Modelle politischer Steuerung unterhalb
der Ebene der Vergemeinschaftung an Momentum verlieren und seine europapolitische
Gestaltungskraft einbüßen.
Konsequenzen der Erweiterung
Eine nachhaltige Überwindung der Teilung Europas gibt es nur unter
dem Dach der Integration. Ihre Öffnung nach Osten ermöglicht
für die Europäische Union wie die Beitrittskandidaten die volle
Ausschöpfung politischer und wirtschaftlicher Synergie. Mit der Erweiterung
verknüpfen die Bürger aber nicht nur die positive Aussicht einer
Ausweitung der europäischen Stabilitätszone, sondern auch Skepsis
hinsichtlich der Frage ihrer Finanzierung. Das Verständnis Europas
als Schicksalsgemeinschaft ruht nicht nur auf der Überwindung der
politischen Teilung des Kontinents, sondern auch auf der Neubestimmung
europäischer Solidarität. Nach den heutigen Regeln wird die
Agrar- und Strukturpolitik einer EU mit 25 und mehr Mitgliedstaaten weder
gestaltbar noch finanzierbar sein:
-
Die Tendenz in der Agrarpolitik geht in Richtung eines Agrarbinnenmarktes
und des Auslaufens der produktionsbezogenen Subventionen. An die Stelle
der bisherigen Einkommenssicherung sollten aufgabenspezifische Leistungen
für die europäischen Landwirte zur Erfüllung ökologischer,
regionalpolitischer oder soziokultureller Aufgaben treten. Fraglich
ist, ob sich eine erweiterte EU Exportsubventionen von Agrarprodukten
aus Steuermitteln noch leisten will. Der Abbau dieser Subventionen
würde die Position Europas im WTO-Rahmen erheblich erleichtern.
-
In der Regional- und Strukturpolitik vermischen sich zwei verschiedene
Zielkomplexe zu einem kaum erneuerbaren Transfersystem. Für eine
erweiterte EU wäre es besser, die Ziele zu trennen und die Fonds
passgenau auf die Überwindung spezifischer Entwicklungsdefizite
zu konzentrieren. Der Ausgleich asymmetrischer finanzieller Erträge
aus dem gemeinsamen Markt könnte wirksamer und transparenter
im Rahmen eines System des Finanzausgleichs erfolgen.
Die europäische Ausgabenpolitik wird sich generell konsequenter
als bisher an den Kriterien der Zielerreichung und der Konzentration des
Mitteleinsatzes ausrichten müssen. Dem sollte andererseits eine ungeteilte
Solidarität der EU-Mitglieder auf der Beitragsseite gegenüber
stehen - nationale Rabatte, die aus der Entscheidungsblockaden und Paketlösungen
der Vergangenheit resultieren, sind ebenso wenig zukunftsfähig wie
der Versuch, die Größenordnung von Transfers national statt
bedarfsbezogen festlegen zu wollen. Dem Verlust an Besitzständen
wird jedoch ein Zugewinn an Stabilität, Finanzierungssicherheit und
Wachstumschancen gegenüberstehen. Reformen im Bereich der EU-Politiken
sind in diesem Sinn ein zentrales Element der notwendigen Verständigung
über die künftige Wirtschafts- und Finanzverfassung der Europäischen
Union.
Europas Rolle in der Welt
Angesichts der Erfahrungen auf dem Balkan, den neuen Risiken des Terrors
und den Anforderungen an weltweite Friedenspolitik sind die Konzepte und
Strukturen europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik neu
zu durchdenken. Die Balkankrisen haben gezeigt, dass Europa ohne handlungsfähige
militärische Führung, die sich auf entsprechende Mittel und
Entscheidungsstrukturen abstützen kann, keine wirksame Krisenbewältigung
leisten oder gar eine tragende Rolle bei der Gestaltung von Friedensordnungen
spielen kann. In der Folge sind die Beschlüsse zum Ausbau der Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik getroffen worden. Eine Konsequenz
der Ereignisse des 11. September ist jedoch, das Ziel einer schnellen
Eingreiftruppe von 60.000 Mann präziser und ambitionierter zu definieren.
Die Entschlüsse zu Aufbau und Ausstattung sind unzureichend. Wesentliche
Komponenten der Mobilität und Aufklärung werden erst mit erheblicher
Verzögerung und bei entsprechendem Engagement der Mitgliedstaaten
verfügbar sein. Nur durch die gemeinsame Bedarfsbestimmung und eine
entsprechende Mittelkonzentration im Rüstungsbereich sind hier die
nötigen Entwicklungspotenziale freizusetzen.
Erfolgreiche Vorbeugung gegen Terroranschläge erfordert die Verzahnung
von äußerer und innerer Sicherheit. Die Segmentierung der Sicherheitspolitik
in getrennte Handlungsfelder - wie dies auch in den Mitgliedstaaten der
Fall ist - sollte überwunden werden. Die Ergänzung der militärischen
Komponente durch nicht-militärische Instrumente wie die Aufstellung
und Ausrüstung einer gemeinsamer Polizeitruppen zur Bewältigung
der Petersberg-Aufgaben hat an Dringlichkeit gewonnen. Die europäische
Sicherheitspolitik sollte künftig als übergreifendes Prinzip
verstanden werden. Die Trennung in gemeinschaftliche und intergouvernementale
Politikbereiche in den Außenbeziehungen wird nicht aufrechtzuerhalten
sein, wenn die Handlungsfähigkeit der erweiterten EU gestärkt
werden soll. Das Spektrum außenpolitischer Handlungsmöglichkeiten,
inklusive der Außenhandelsbeziehungen, sollte gebündelt werden,
damit die Ressourcen des Rates und der Kommission sowie die Beratungs-
und Entscheidungsinstanzen der Mitgliedstaaten ineinander greifen können.
Die Kommission ist dabei schon heute das Scharnier zwischen den Pfeilern
und Politiken.
Ein Raum der Sicherheit
Der Europäische Rat hat das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2004 einen
Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts zu verwirklichen. Die
Konsequenzen sind ähnlich weit reichend wie die der Schaffung des
Binnenmarktes. Schon durch die gemeinsamen Bestimmungen im Bereich Asyl,
Visa und Migration sowie die Schaffung von Europol und Eurojust wird eine
neue Stufe der Integration erreicht. Doch wird die Entwicklung hier nicht
stehen bleiben. Weitere Projekte wie die Einrichtung einer europäischen
Grenzschutztruppe, die Weiterentwicklung von Eurojust zu einer Europäischen
Staatsanwaltschaft mit begrenzten Ermittlungsrechten in den Mitgliedstaaten
sowie der Ausbau der operativen Rechte von Europol zeichnen sich bereits
ab - sie liegen in der Logik eines gemeinsamen Sicherheitsraumes nach
innen. Wie in der Außen- und Sicherheitspolitik sollte auch hier
eine Auflösung des separaten Pfeilers für die verbliebenen Sachfragen
der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen folgen.
Der gemeinsame europäische Haftbefehl und die Verabschiedung der
europäischen Geldwäscherichtlinie sind als Vorzeichen dieser
Entwicklung zu verstehen.
Wenn grenzüberschreitende Folgen der Freizügigkeit im Binnenmarkt
und der Unionsbürgerschaft zum Gestaltungsbereich der EU werden,
dann sollte auch die volle Mitwirkung des Europäischen Parlaments
bei der Gesetzgebung sowie die parlamentarische Kontrolle der Exekutive
gewährleistet werden. Eine wichtige Rolle kommt daneben dem künftigen
Vertragsstatus der Grundrechtscharta zu. Sie schützt die Bürger
vor unzulässigen Eingriffen der Gemeinschaftsorgane in ihre Rechte.
Der Europäische Gerichtshof sollte die nötige Rechtssicherheit
gewährleisten. In dem die Bürger unmittelbar betreffenden Feld
der Grundrechtspolitik muss die Aufteilung der Aufgaben zwischen der Mitgliedstaaten
und der EU mit besonderer Sorgfalt erfolgen.
IV. Die Perspektiven - eine neue Qualität der Integration
Die Umsetzung dieser Projekte schafft eine neue Qualität der Integration.
Die Europäische Union wird zu einer umfassenden Sicherheits- und
Stabilitätsgemeinschaft. Das hat konzeptionelle Folgen die Akzeptanz
und die Zielvorstellungen des Integrationsprozesses.
Für die Europapolitik wird es entscheidend sein, die Begründungen,
die Entwicklungsrichtungen und die Folgefragen der derzeitigen Integrationsprojekte
in der Öffentlichkeit zu diskutieren und zu vermitteln. Es geht darum,
durch die Schaffung eines öffentlichen Resonanzbodens die notwendige
Zustimmung für ein handlungsfähiges Europa zu sichern. Langfristig
sollte Europa von seinen Bürgern auch im Alltagsleben als öffentlicher
Raum, als politischer Bezugsrahmen einer gemeinsamen Identität wahrgenommen
werden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung liegt darin, das Eigeninteresse
europapolitischer Entscheidungsträger zu erhöhen, sich über
die Medien an die nationalen Öffentlichkeiten zu wenden. Die Wahl
des Präsidenten der Europäischen Kommission durch das Europäische
Parlament könnte einen entscheidenden Beitrag dazu leisten.
Die Errichtung des Binnenmarktes und die Verwirklichung des Euros haben
gezeigt, dass Visionen Wirklichkeit werden können. Viele Europapolitiker
haben bereits Zukunftsentwürfe für die politische Ordnung einer
immer größeren EU vorgelegt, die weit über die Reformagenda
2004 hinausweisen. Die nächste Regierungskonferenz ist aus dieser
Perspektive eine wichtige Station auf dem Weg zur Vollendung des politischen
Systems der Europäischen Union. Je mehr die Europäische Union
staatliche Aufgaben übernimmt und je weiter die Integration ins tägliche
Leben der Bürger eingreift, desto wichtiger wird die Präzisierung
des Leitbilds der Integration.
* Der Text war Grundlage des von der Bertelsmann
Stiftung in Berlin durchgeführten "Europapolitischen Dialogs"
mit dem Bundeskanzler.
Ansprechpartner
Dr. Claus Giering
E-Mail: claus.giering@lrz.uni-muenchen.de
Positionen >>
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N
e w s & E v e n t s
07.12.2001: Bundeskanzler
Schröder trifft Spitzenakteure deutscher Europapolitik - Bertelsmann
Stiftung und C·A·P organisieren Europapolitischen Dialog mit
dem Bundeskanzleramt
P u b l i k a t i o n e n
Werner Weidenfeld (Hrsg.):
Nizza
in der Analyse
(Buch und CD-ROM), Strategien für Europa, Verlag Bertelsmann Stiftung,
Gütersloh 2001
M e d i e n s p i e g el
Europäische Zeitung 01/2002: Die
Verfassung im Visier - Erfolg einer ambitionierten EU-Ratspräsidentschaft
Belgiens, von Claus Giering
D o w n l o a d s
Bertelsmann Forschungsgruppe Politik: Ein Grundvertrag für die Europäische
Union - Entwurf zur Zweiteilung der Verträge, C·A·P Working
Paper, Mai 2000
Download (423 KB, PDF-Format): Vollversion
Die Debatte um eine europäische Verfassung
Leitbilder - Konzepte - Strategien, C·A·P Working Paper von
Sonja Volkmann-Schluck, München 12/2001
Download (452 KB, PDF-Format): Vollversion
Europas Zukunftsfähigkeit - Herausforderungen, Grundlagen, Perspektiven,
C·A·P Working Paper von Werner Weidenfeld und Josef Janning,
München 12/2001
Download (37 KB, PDF-Format): Vollversion
U m f r a g e
Welche Verfassung braucht die Europäische
Union?
I n t e r n e t
Europäischer Rat: Die
Zukunft der Europäischen Union - Erklärung von Laeken, 15.12.2001
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