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P o s i t i o n

Ein lachendes und ein weinendes Auge -
Deutschland und der Vertrag von Nizza

Von Josef Janning und Claus Giering


Die Wahrung und Vertiefung der europäischen Integration ist neben der sicherheitspolitischen Westbindung seit über fünfzig Jahren der wichtigste Pfeiler bundesdeutscher Außenpolitik. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes haben sich zwar die geopolitische Lage und damit auch die Anforderungen an die deutsche Europapolitik verändert, doch auch nach der eigenen Wiedervereinigung gehörten die Osterweiterung der NATO und vor allem der Europäischen Union immer zu den strategischen Zielen Deutschlands. Vor allem die Vorbereitung der Europäischen Union auf den Beitritt von mindestens zwölf Staaten - mit denen bereits verhandelt wird - nimmt einen breiten Raum in der europapolitischen Debatte ein. Ziel ist es, das politische System der Europäischen Union erweiterungsfähig zu gestalten. Nachdem ein erster Versuch 1997 in Amsterdam noch vertagt worden war, sollten die nötigen institutionellen Revisionen nun mit dem Vertrag von Nizza vorgenommen werden. Besonders für Deutschland, das sich - nicht zuletzt aufgrund seiner zentralen Lage und den daraus erwachsenden wirtschaftlichen Perspektiven - als "Anwalt" der Beitrittskandidaten sieht, war der erfolgreiche Abschluss der Reformrunde von Nizza also von allergrößter Bedeutung.
Aus deutscher Sicht sollte der Vertrag von Nizza drei Ziele erreichen: Er sollte die eigene Vorgabe sowie das Drängen einiger Partner auf eine institutionelle Verstärkung vor der Erweiterung nach Osten befriedigen und damit eine Hürde im Aufbau des neuen Europa beseitigen. Um eine Schwächung der gemeinsamen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit aufgrund der höheren Mitgliederzahl zu verhindern, mussten dazu die Bereiche der Mehrheitsentscheidung ausgedehnt und die Institutionen an die Mitgliederzahl und die Größenverhältnisse der erweiterten Europäischen Union angepasst werden. Sowohl bezüglich der Mehrheitsentscheidungen wie auch bei der künftigen Zusammensetzung der Institutionen hatte Deutschland dabei durchaus eigene Interessen im Blick. Zweitens sollte die Reform die Anwendbarkeit der "verstärkten Zusammenarbeit" verbessern, die in der letzten Regierungskonferenz in den Vertrag eingeführt wurde, dort aber mit zu vielen Klauseln befrachtet worden war, so dass das Ziel eines flexiblen, auf die Vertiefung der Integration gerichteten Entwicklungsinstruments nicht erreichbar schien. Und drittens sollte in Nizza bereits der Weg zu weiteren Reformen eingeschlagen werden, um einerseits die Dynamik des Integrationsprozesses aufrecht zu erhalten, diese aber andererseits in einem festeren strukturellen Rahmen zu kanalisieren.

Für die deutsche Europapolitik war klar, dass in Nizza keines dieser Ziele, deren Konfliktpotenzial schon auf der letzten Regierungskonferenz vor Amsterdam deutlich wurde, leicht umzusetzen war. Denn anders als der dafür verwendete harmlose Begriff der "left-overs" suggeriert, handelte es sich in Nizza nicht um Überbleibsel früherer Reformen, sondern um ungelöste Macht- und Balancefragen der Europapolitik. Zum ersten Mal seit vielen Jahren standen in Nizza die Prinzipien der Repräsentation der Staaten und ihrer Bürger zur Neuverhandlung und erst unter dem Druck des Beitritts zahlreicher weiterer Staaten konnte eine Verständigung erzielt werden.

Mühen der Konsensfindung

Ein großer Sprung nach vorn wurde in Nizza nicht erzielt und konnte es wohl auch kaum werden - zu sehr war die Politik der EU-Mitgliedstaaten auf die bestehenden Besitzstände und Relationen fixiert. Daher hatte man sich schon auf dem Kölner Gipfel im Juni 1999 auf eine sehr begrenzte Agenda festgelegt. Neben den drei "Left-overs" von Amsterdam - Zusammensetzung der Kommission, Neugewichtung der Stimmen und Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen im Rat - wurden nur noch die personelle Zusammensetzung der übrigen Institutionen auf die To-Do-Liste der Regierungskonferenz gesetzt. Auf dem Gipfel von Feira im Juni 2000 wurde diese Agenda - nicht zuletzt auf deutsches Drängen - noch um das Thema der verstärkten Zusammenarbeit ergänzt. Deutschland hat zu diesen Aufgaben bereits im März ausführlich Stellung bezogen und im Zuge der Regierungskonferenz noch zwei wichtige Initiativen bezüglich der verstärkten Zusammenarbeit und des einzuleitenden Post-Nizza-Prozesses ergriffen. Das deutsche Forderungsprofil an Nizza war klar und wenig überraschend.

Bezüglich der Kommission hat sich Deutschland von Beginn an für eine Begrenzung der Anzahl der Kommissionsmitglieder ausgesprochen und eine Obergrenze von 20 für nötig erachtet, damit die Effizienz der Kommissionsarbeit nicht "deutlich zu leiden beginnt". Daher war Deutschland auch bereit, ab 2005 auf "seinen" zweiten Kommissar zu verzichten, um Freiraum für die Erweiterung zu schaffen. Die Entscheidung über die endgültige Obergrenze ist in Nizza aber auf den Zeitpunkt verschoben worden, zu dem der 27. EU-Mitgliedstaat beitritt und muss darüber hinaus einstimmig fallen. Bis dahin darf jeder Mitgliedstaat einen Kommissar stellen. Allerdings wurde dem Kommissionspräsidenten ein größerer Spielraum bei der internen Organisation und Arbeitsteilung eingeräumt. Er erhält das Recht, einzelne Kommissare in Absprache mit dem Kollegium zum Rücktritt aufzufordern und gegebenenfalls eine neue Zuweisung der Aufgaben im Verlauf der Amtszeit vorzunehmen. Von besonderer Bedeutung dürfte mittelfristig die Entscheidung werden, dass der Kommissionspräsident künftig mit qualifizierter Mehrheit im Rat benannt wird. Damit sind in Nizza die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Kommission trotz steigender Mitgliedszahlen verbessert worden, weswegen auch Deutschland und Frankreich, die beide eine Verkleinerung begrüßt hätten, letztlich mit diesem Kompromiss leben können.

Bedingung der großen Mitgliedstaaten für die Aufgabe ihres zweiten Kommissars war aber eine angemessene Höhergewichtung ihrer Stimmen im Rat, damit sie durch den Beitritt hauptsächlich kleinerer Staaten nicht unannehmbar an Gewicht und Einfluss verlieren. Zwar konnte diese Vorgabe des Amsterdamer Vertrages bei der beschlossenen Neugewichtung erfüllt werden, indem das Stimmgewicht der großen im Verhältnis zu dem der kleinen Staaten deutlich aufgewertet wurde. Was aber die Erhöhung der Stimmenzahl für die großen Mitgliedstaaten an Gestaltungspotential eröffnet hätte, geht durch die Anhebung des Quorums im Zuge der Erweiterung von derzeit 71% auf fast 74% der Stimmen sowie durch die Einführung zweier zusätzlicher Kriterien - Mehrheit der Staaten und Vertretung von 62% der EU-Bevölkerung - wieder verloren. Schwieriger als zuvor wird es sein, eine Entscheidung mit der nun dreifachen Mehrheit von Stimmen, Staaten und Staatsbürgern zu erzielen. Damit nimmt das Gestaltungspotential in der europäischen Politik ab, während die Verhinderungsmacht wächst.

Verhindert wurde ein effektiveres Entscheidungsverfahren nicht zuletzt durch das im Prinzip nachvollziehbare deutsche Anliegen, aufgrund seiner Bevölkerungsgröße von über 80 Mio. Einwohnern zumindest symbolisch mehr Stimmen im Rat als Frankreich, Großbritannien und Italien mit je rund 60 Mio. Einwohnern zu erhalten. Dadurch wurde die bestehende Balance der Mitgliedstaaten in Frage gestellt und vor allem Frankreich hat sich bis zuletzt gegen eine höhere Stimmenzahl für Deutschland verwehrt, da es die gemeinsame Geschäftsgrundlage und gleichgestellte Position beider Staaten innerhalb des Integrationsprozesses gefährdet sah. Deutschland hat dann aber letztlich über das bei Bedarf abrufbare Bevölkerungskriterium doch durchgesetzt, eine gewichtigere Position als die anderen großen Staaten einnehmen zu können. Im Rat hat Deutschland damit künftig ein besonderes Gewicht, wenn es darum geht, unerwünschte Entscheidungen zu behindern. Die Querelen um die Neugewichtung der Mitgliedstaaten bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen haben aber grundsätzlich nicht nur eine leichte Besserstellung Deutschlands, sondern insgesamt eine Erschwerung der Entscheidungsfindung durch die Einführung einer dreifachen Mehrheit und der Anhebung der Mehrheitsschwelle nach sich gezogen. Damit wird es künftig leichter sein, Verhinderungsmacht zu generieren als Gestaltungspotenzial aufzubauen - den Preis dafür wird nicht zuletzt Deutschland zu zahlen haben, wenn es darum geht, konstruktiv gemeinsame Politiken voranbringen zu wollen.
Aufgrund dieser dreifachen Absicherung und der Anhebung der Mehrheitsschwelle hätte man eigentlich eine deutlichere Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rat wagen können. Zudem waren sich im Prinzip alle Verantwortlichen über die Notwendigkeit dieses Schrittes einig. Die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen fällt aber nur quantitativ zufriedenstellend aus, indem etwa die Hälfte der rund 70 zur Debatte stehenden Entscheidungsgrundlagen aus der Einstimmigkeit in die Mehrheit überführt worden sind. Erst im Detail wird deutlich, dass eine Übertragung in die Mehrheit zumeist nur in weniger bedeutenden Einzelfragen und bei personellen Entscheidungen möglich war. Das ist zwar an sich schon ein Erfolg, aber vor allem die weitreichende Beibehaltung der Einstimmigkeit in der Struktur-, Sozial-, Steuer- und Handelspolitik kann nicht im Interesse Deutschlands sein. So könnte in der Handelspolitik sogar eine Rückkehr zur Einstimmigkeit die Folge diffuser, von Frankreich forcierter Schutzklauseln sein. In der Steuer- und Sozialpolitik verhinderte Großbritannien im Verbund mit anderen Staaten der Übertragung. Und andere Bereiche werden erst zeitlich verzögert in die Mehrheitsentscheidung überführt, wobei insbesondere die von Spanien ausgeklammerte Strukturpolitik zum Austragungsort von Verteilungskonflikten in der erweiterten Union zu werden droht.

Jede Entscheidung in diesen Politikfeldern, an denen Deutschland ein spezifisches Interesse hat, kann durch einzelstaatliche Blockaden verhindert werden oder die Zustimmung muss durch erhebliche Zusatzkosten "erkauft" werden. Politikgestaltung in Europa, das aus deutscher Sicht so wichtige Regieren über Mehrheiten, dürfte so nicht zum prägenden Politikmuster der Integration werden. Daran ist aber Deutschland selbst nicht unschuldig, da mit Asyl und Einwanderung - nicht zuletzt auch auf Drängen der deutschen Bundesländer - zwei zentrale Politikbereiche der Innen- und Justizpolitik in der Einstimmigkeit verbleiben, bis einstimmig den deutschen Interessen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen worden sind. Nachdem also keiner dieser Mitgliedstaaten Bewegung in seinen jeweiligen nationalen Interessenfeldern erkennen ließ und eine generelle Übertragung in die Mehrheit befürwortet hätte, konnte keine substanziellere Ausweitung erfolgen.
Trotz der genannten Einschränkungen hat dennoch eine spürbare Ausweitung der Mehrheitsentscheidung stattgefunden. Diese wurde allerdings nicht von einer entsprechenden Überführung in das Mitentscheidungsverfahren komplementiert. Aber immerhin wurde in Nizza eine neue Sitzverteilung im Parlament beschlossen, bei der Deutschland neben Luxemburg als einziges Mitgliedsland seine Sitzzahl behaupten konnte. Alle anderen Mitgliedstaaten haben zu Gunsten der Beitrittskandidaten auf Sitze verzichten müssen. Zwar hat Deutschland immer noch die ungünstigste Relation von Abgeordneten zu Wählern, dennoch hat sich das relative Gewicht Deutschlands weiter verbessert, was angesichts der wachsenden Bedeutung des Europäischen Parlaments als Gesetzgebungsinstanz von großer Bedeutung ist. Mit einer stärker proportional ausgerichteten Zusammensetzung des Parlaments wird auch die Qualität demokratischer Repräsentanz auf europäischer Ebene tendenziell verbessert. Im Vergleich zur Reichweite der Veränderungen bei Kommission und Rat könnte das Parlament sogar als der eigentliche Gewinner von Nizza bezeichnet werden - ein Gewinn, der zugleich ein Zuwachs an demokratischer Qualität für Europa bedeutet und damit eine Reformlinie ergänzt, die zusammen mit der Charta der Grundrechte für mehr Bürgernähe und Teilhabe steht.

Zusammenfassend läßt sich zu den institutionellen Reformen festhalten, dass die Veränderung von Stimmgewichtung und Mehrheitsschwelle bei Entscheidungen im Rat nicht als Mittel zur Erleichterung von Gestaltungsmehrheiten interpretiert worden ist. Vielmehr rangen fast alle Mitgliedstaaten so vehement um ihren künftigen Status in der Europäischen Union, dass daran beinahe die gesamten Reformbemühungen gescheitert wären. Die Neugewichtung der Stimmen im Rat sowie die neue Sitzverteilung im Parlament werden auch Auswirkungen auf die bisherige deutsch-französische Balance in den Gemeinschaftsorganen haben. Im Rat erhalten zwar beide Staaten gleich viele Stimmen, Deutschland ist aber durch das neue Kriterium, nach dem eine Mehrheit der Stimmen auch mindestens 62% der Bevölkerung vertreten muss, künftig stärker gewichtet als die anderen großen Staaten. Nur Deutschland kann zusammen mit zwei anderen großen Staaten eine Mehrheitsentscheidung blockieren. Auch im Parlament verschiebt sich die Vertretung zugunsten Deutschlands, da nur Deutschland seine bisherigen 99 Sitze behält, während Frankreich, Großbritannien und Italien im Zuge der Erweiterung immerhin 15 ihrer bisher 87 Sitze verlieren werden.

Jenseits des Vertrags von Nizza bleibt die Frage nach einem angemessenen Regierungssystem für die große Europäische Union weiter bestehen. Die Klärung der Machtfrage hat sich als zu schwierig für das Europa der 15 erwiesen, um zu einer zufriedenstellenden Lösung für ein Europa der 27 zu kommen. Eine erste Erweiterungsrunde wird auf dieser Basis zwar möglich sein, die Grenzen der Reformen von Nizza werden sich jedoch im Entscheidungsalltag der Union schon bald bemerkbar machen. Und von der Türkei, dem potentiell 28. Mitgliedstaat, war dabei noch gar keine Rede. Die künftige Machtbalance wird deshalb erneut - und das nächste Mal unter Beteiligung der bis dahin beigetretenen Kandidatenstaaten - verhandelt werden müssen. Aus deutscher Sicht steht in diesen Fragen auch künftig die Chance der Mehrheitsgestaltung im Vordergrund. In praktisch allen Fragen der Europapolitik erfordern Entscheidungen eine Gestaltungskoalition von kleinen und großen Staaten, die groß genug ist, um sich gegen Bedenken und nationale Sonderwege durchsetzen zu können. Handlungsfähigkeit wird dann gesichert, wenn die Mehrheitsrolle dieser Koalitionen gegeben ist. An dieser Zielsetzung wird in künftigen Reformverhandlungen wieder angeknüpft werden müssen.

Verstärkte Zusammenarbeit als Integrationsmotor

Nachdem sich schon früh abgezeichnet hat, dass die institutionellen Problemfelder zum Teil nur sehr unbefriedigend behandelt werden können, haben einige Mitgliedstaaten - allen voran Deutschland und Italien - ein weiteres Thema forciert. Das in Amsterdam entwickelte Instrument der verstärkten Zusammenarbeit sollte so angepaßt werden, dass es tatsächlich zum Einsatz kommen kann, um in manchen Politikfeldern trotz der eingeschränkten Handlungsfähigkeit eine weitere Vertiefung der Integration zu ermöglichen. In diesem Sinne wurden mit dem Vertrag von Nizza drei wichtige Veränderungen vorgenommen, die die bisherigen Einschränkungen der Anwendbarkeit mindern sollen:

  • Erstens wird künftig das Vetorecht für einzelne Mitgliedstaaten fallen. Damit ist die Chance verbessert worden, Blockaden in einzelnen Sachbereichen zu vermeiden.

  • Zweitens wird das Instrument formal auch für die zweite Säule, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), verfügbar gemacht, solange dadurch nicht verteidigungspolitische Fragen berührt sind.

  • Und drittens wurde die Anzahl der von Beginn an nötigen Mitgliedstaaten statt der Hälfte der Mitgliedstaaten auf acht festgesetzt.

Mit diesen drei Maßnahmen werden die Restriktionen der verstärkten Zusammenarbeit erheblich abgemildert und der Auslösemechanismus spürbar erleichtert. Damit dürfte es vor allem in einstimmig zu entscheidenden Politikfeldern einfacher werden, mögliche Blockaden aufzulösen und den Integrationsprozess konstruktiv zu gestalten. Die verstärkte Zusammenarbeit kann so zwar zur Lösung bereichsspezifischer Blockaden im politischen "Alltag" einer EU mit 28 und mehr Mitgliedstaaten herangezogen werden. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer ging aber in seiner Humboldt-Rede vom Mai 2000 noch davon aus, dass dieses Instrument auch den Weg zur Finalität ebnen werde, indem durch die Nutzung der verstärkten Zusammenarbeit ein Gravitationszentrum entstünde, aus dem heraus eine Europäische Föderation erwachsen könnte. Doch nach Nizza stellen sich Zweifel ein. Denn als grundsätzliches Vertiefungsinstrument einer stetig wachsenden Union wird die verstärkte Zusammenarbeit nur bedingt anwendbar bleiben, da sie in allen drei Säulen trotz der Reform weiterhin rigiden Einschränkungen unterworfen bleibt und somit nicht zu großen Sprüngen in bestehenden Bereichen oder gar zur Erschließung neuer Politikfelder herangezogen werden kann.

Welchen Nutzen hat dann die verstärkte Zusammenarbeit? Sie wird wohl künftig weniger der Kernbildung als vielmehr der effizienten Politikgestaltung im Detail dienen. In diesem Sinne ist eine abgewogene Beschränkung ihrer Anwendbarkeit gerechtfertigt, damit die tagespolitische Anwendung nicht zu einer unkontrollierten Zerfaserung des allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsbestandes führt. Das Prinzip der verstärkten Zusammenarbeit wird dadurch aber auch nicht die bestimmende Integrationsmethode der künftigen Union sein. Es ist auch keine Voraussetzung für die Entstehung eines Gravitationszentrums, da sich dieses bereits heute durch die Teilnehmer an den weitreichendsten Integrationsprojekten identifizieren lässt. Nach Amsterdam konnte die verstärkte Zusammenarbeit als "Dynamik in der Zwangsjacke" bezeichnet werden. Die Zwangsjacke ist der verstärkten Zusammenarbeit in Nizza nun abgenommen worden. Die Türen des Gestaltungsraumes, in dem das Instrument eingesetzt werden kann, bleiben aber weiterhin verschlossen, damit das "gefährliche Wesen" der Differenzierung innerhalb des Vertragsgebäudes keinen Schaden anrichten kann.

Die Dynamik bleibt erhalten

Die Regierungskonferenz des vergangenen Jahres und der Vertrag von Nizza markieren eine wichtige Zwischenetappe im Aufbau einer großen Europäischen Union - aber auch nicht mehr. Als Erkenntnis bleibt jedoch, dass die institutionellen Reformen des Vertrags von Nizza die Grenzen des supranationalen Prinzips deutlich gemacht haben. Die anstehenden Schritte der weiteren Öffnung nationaler Souveränität verlangen offenbar nach einer präziseren Bestimmung der Reichweite europäischer Integration. Im Reformprozess nach Nizza werden deshalb Schranken der Entgrenzung entwickelt werden müssen - vor allem in der Präzisierung der Arbeitsteilung zwischen europäischer, nationaler und regionaler Ebene sowie der Fortentwicklung einer demokratischen und bürgernahen politischen Ordnung auf europäischer Ebene. In diesem Sinne hat der Gipfel von Nizza auf deutsch-italienische Initiative hin bereits die Kontur der kommenden Reformdebatte vorgezeichnet. Bis zum Jahr 2004 sollen die Mitgliedstaaten Lösungen für folgende vier Aufgaben erarbeiten:

  • Die Entwicklung einer vernünftigen und verständlichen Arbeitsteilung zwischen den an europäischen Entscheidungen beteiligten, politischen Ebenen;

  • die Aufnahme der in Nizza feierlich proklamierten Grundrechtscharta in den Vertrag;

  • die Vereinfachung der Gemeinschaftsverträge und damit die Entwicklung eines Verfassungsvertrages;

  • die Einigung über die künftige Rolle der nationalen Parlamente im europäischen Integrationsprozess.
    Mit der Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union wurde mit den Themen der Kompetenzaufteilung und der Vereinfachung der Verträge wichtige Anliegen der Bundesregierung und der Bundesländer aufgegriffen. Vor allem die deutschen Bundesländer hatten darauf bestanden, die Aufgabenteilung auf die Agenda der nächsten Reformrunde zu setzen und dies als Voraussetzung für ihre Zustimmung zu den Beschlüssen von Nizza benannt. Damit bleibt die Reformdynamik erhalten und gleichzeitig wird eine stabilere und transparentere Basis für das europäische Mehrebenensystem angestrebt.

Für die deutsche Europapolitik wird es dabei entscheidend sein, die Begründungen, die Entwicklungsrichtung und die Folgefragen dieser Projekte in der Öffentlichkeit zu vermitteln. Denn der Prozess der Integration hat eine Stufe erreicht, die eine öffentliche Auseinandersetzung um die nächsten Schritte erfordert. Eine große Europäische Union mit 28 und mehr Mitgliedern darf sich nicht noch weiter von den Bürgern entfernen - sie muss effizient handeln können und in ihren Abläufen ohne vorheriges Studium der Zeitgeschichte verständlich werden. Europa zu verstehen ist die Voraussetzung zur Unterstützung und zur Teilnahme. Ohne die Zustimmung der Menschen wird keines der ambitionierten Vorhaben Europas - ob in der Innen- und Justizpolitik, bzgl. einer innovativen und kohärenten Wirtschaftspolitik oder in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik - zu verwirklichen sein. Ohne die Umsetzung eines energischen Programms der Politik, das die Ziele und Schritte der laufenden Projekte vermittelt, wird sich Zustimmung nicht artikulieren.

Vieles spricht dafür, neue Wege in der Entscheidung über diese Grundfragen zu gehen und sie nicht allein über die Aushandlung von Positionen in Regierungskonferenzen und Verträgen abzuarbeiten. Zukunftsgestaltung in dieser entscheidenden Phase der Integration benötigt den öffentlichen Dialog und die Beteiligung vieler. Wäre es nicht besser, wenn künftig die erforderliche Fixierung von Reformergebnissen in Vertragsänderungen den Endpunkt von Europadebatten bilden würde? Regierungskonferenzen würden damit nicht zum Ersatz der Reformdebatte, sondern gewissermaßen zu ihrem Notariat. Das Jahr 2001 sollte zu einem Jahr der öffentlichen Debatte über das Kompetenzgefüge wie über die politische Grundordnung Europas werden. Diese sollte nicht allein von den Regierungen, sondern auch von den Multiplikatoren, den Parlamenten wie den Interessengruppen und Verbänden getragen werden. Im darauf folgenden Jahr 2002 könnten Expertengruppen die Ergebnisse zusammen führen und Vorschläge ausarbeiten. So könnte das Instrument des Konvents, das bereits bei der Ausarbeitung der Grundrechscharta erprobt worden ist, für die Erarbeitung eines Grundvertrages genutzt werden, während sich die Frage des Kompetenzgefüges für die Behandlung durch Sachverständige eignen würde und für die Klärung der Rolle der nationalen Parlamente eine interparlamentarische Kommission gebildet werden könnte.

2003 wäre dann Gelegenheit für eine Reflexionsgruppe aus Vertretern von Regierungen und Parlamenten, die Debatten und Vorschläge zu bündeln und zur Behandlung im Rahmen einer neuen Regierungskonferenz 2004 vorzubereiten. In diesen Prozess sollten die künftigen Mitglieder eingebunden werden. Die Erweiterungsverhandlungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Staaten könnten möglicherweise schon 2002 abgeschlossen sein, so dass einige Staaten mit dem Beginn der nächsten Regierungskonferenz den Beitritt vollziehen und Sitz wie Stimme in der Regierungskonferenz beanspruchen dürfen. An den öffentlichen Debatten und Expertenberatungen der kommenden beiden Jahre sollten sich deshalb alle Staaten beteiligen können, die in Verhandlungen um den Beitritt stehen. In der Vorbereitungsphase der Regierungskonferenz sollten dann bereits diejenigen formell einbezogen werden, deren Beitritt in die Zeit der Regierungskonferenz fallen wird.

Ein solches Programm ist nicht frei von Risiken - es könnte gesellschaftliche und nationale Grenzen des Konsenses offenlegen, die Regierungen und Parlamenten eine substanzielle Weiterentwicklung Europas unmöglich machen könnten. Eine offene und nicht auf Deutschland beschränkte Debatte lässt sich dennoch nicht vermeiden, denn ohne sie könnten diffuse Ängste und deren Instrumentalisierung die Europa-Debatte verformen und den Sinn der Auseinandersetzung ins Gegenteil verkehren: Ohne die Legitimation durch Diskussion und Teilhabe würde die Entscheidungsfähigkeit der Europapolitik nicht nur in Deutschland geschwächt.

Die Bilanz des Vertrags von Nizza enthält also gemischte Signale für die Zukunft der Integration. Einerseits sind Schritte in Richtung auf das für Nizza gesetzte Ziel einer verstärkten Handlungs- und Erweiterungsfähigkeit erreicht worden. Andererseits sind diese Fortschritte mit einer Verstärkung der Vetopositionen und mit Nicht-Entscheidungen in sensiblen Politikbereichen oder bei der künftigen Anzahl der Kommissionsmitglieder erkauft worden. Auch Deutschland selbst kann die Reformen von Nizza nur mir einem lachenden und einem weinenden Auge zur Kenntnis nehmen: Zum einen hat Deutschland eine ganze Reihe seiner eigenen Ziele und spezifischen Interessen - so die Sitzzahl im Parlament, die Höhergewichtung im Rat, die Lockerung der Flexibiliät oder die Agenda der Zukunftserklärung - durchsetzen können. Zum anderen kann Deutschland aber mit einigen grundsätzlichen Entscheidungen des Gipfels von Nizza, vor allem den künftigen Entscheidungsprozeduren im Rat, nicht zufrieden sein, da darunter die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in den Stufen ihrer Erweiterung leiden wird.


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