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N e w s  &  E v e n t s

Regionale Identitäten im bayerisch-böhmischen Grenzraum

Studientag der Forschungsgruppe Deutschland
5. Februar 2004, Kardinal Wendel Haus München

18.02.2004 - Forschungsgruppe Deutschland



 
  Regionale Selbstbeschreibung in Umdeutung: Gedenktafel in Domažlice

Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes änderte sich die Umwelt der Bevölkerung gerade an der bayerisch-böhmischen Grenze dramatisch. In den Jahrzehnten des Kalten Krieges einstudierte Muster der Selbstbeschreibung verloren ihre Gültigkeit. Der ehemalige "Feind" avancierte zum Nachbarn, mit dem es sich nunmehr im "Herzen Europas" zu verständigen gilt. Da dieses Unterfangen noch häufig scheitert, stellt sich die Herausforderung, eine gemeinsame Sprache zu finden, die einen fruchtbaren, jedoch keinesfalls künstlich harmonisierenden Dialog erlaubt. Regionale, durch Alterität gekennzeichnete Identitätsarbeit ist - so die dem Studientag zugrunde liegende These - dazu geeignet, diesen Dialog durch die ihr per definitionem eigene Auseinandersetzung mit dem "Anderen" zu fördern. Gleichzeitig jedoch können Identitätskonstruktionen auch durch die ihr konstitutive Spannung von Gemeinschaftsetablierung und Exklusion/Konkurrenz die Verständigung über die Grenze hinweg behindern.

Dass es vor allem historische Traditionslinien sind, die neben den Faktoren Natur, geglaubte gemeinsame Abstammung und Religion maßgeblich sind für die regionalen Identitätsangebote in Bayern entlang der Grenze zur Tschechischen Republik, unterstrich der bayerische Landeshistoriker und Politikwissenschaftler Michael Weigl (C·A·P) in seinem Vortrag "Die Bedeutung der Geschichte für die Konstituierung regionaler Identität im bayerisch-böhmischen Grenzraum" (als PDF-Datei im Wortlaut unter Downloads). In das von ihm gezeichnete Bild regionaler Identitäten als historisch fundamentierte Schicksalsgemeinschaft fügen sich auch diese historischen Prägestempel ein, die wie die Hussitenkriege für die regionalen Identitätsangebote aller bayerischen Grenzregionen zur Tschechischen Republik gleichermaßen bedeutsamen sind und den "Anderen" jenseits der Grenze thematisieren. Daneben gelangte nach dem II. Weltkrieg mit den Heimatvertriebenen auch deren Geschichte in die Grenzregionen und beeinflusste die Modifizierungsprozesse der regionalen Identitätsangebote besonders in der Oberpfalz und im Fichtelgebirge. Konstitutiv grenzüberschreitend gedachte und auch zur Zeit des Eisernen Vorhangs am Leben erhaltene Identitätskonstrukte wie das "Egerland" scheinen allerdings - so Weigls These - für die zukünftige Herausbildung grenzüberschreitender Identitätsräume nicht nur ungeeignet, sondern hinderlich zu sein, da sie für die tschechische Bevölkerung sowohl in Folge ihrer Instrumentalisierung durch die kommunistische Herrschaft ("Socialistické Chebsko") als auch durch den Heimatvertriebenengedanken diskreditiert sind.

Zur Ausprägung von grenzübergreifenden Alternativen zu diesen historisch belasteten regionalen Identitätsangeboten könnten potentiell die Euregios beitragen. Christian Hügel (abgeschlossene Magisterarbeit zum Thema am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München) jedoch machte am Beispiel der Euregio "Bayerischer Wald - Mühlviertel - Šumava" deutlich, dass die Euregio im Süden der bayerisch-tschechischen Grenze diesen Anspruch zumindest bisher nicht zu erfüllen vermag. Der deutsch-tschechische Dialog werde vor allem von idealistischen und engagierten Einzelkämpfern bestritten, die von der Arbeit der Euregio - wie auch in der Diskussion untermauert wurde - sehr profitierten. Als eigenständiger Akteur werde die Euregio hingegen bisher in der Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommen. Ist sie damit bisher nicht als Identitätspolitik im eigentlichen Sinne betreibender Akteur zu begreifen, trägt sie doch indirekt mit ihrer Arbeit zu einer möglichen Etablierung eines grenzüberschreitenden Regionalbewusstseins bei. Allerdings sei hier laut Hügel kritisch anzumerken, dass derzeit gerade die "weichen" Projekte, welche die unmittelbare Begegnung zwischen Deutschen und Tschechen förderten, in letzter Zeit gegenüber "harten" Projekten, deren Träger bislang nur unzureichend als Multiplikatoren einer transnationalen Region auftraten, in den Hintergrund treten.

Mit welchen Problemen politische Akteure zu kämpfen haben, wenn sie künstlich konstruierte Identitätsangebote in der Gesellschaft implementieren wollen, zeigte auch der Historiker Erik K. Franzen (Collegium Carolinum) am Beispiel der Integration der sudetendeutschen Heimatvertriebenen in Bayern. Als die bayerische Staatsregierung unter Ministerpräsident Hoegner die Sudetendeutschen 1956 zu "Bayerns viertem Stamm" erhob (nach Franzen in Ersatz zur Pfalz), untermauerte sie damit zwar ihr Verständnis der Sudetendeutschen als "zurückgekehrte bayerische Familienmitglieder" und verpflichtete Politik, Gesellschaft und Heimatvertriebene auf einen Prozess wechselseitiger Integration. Daneben aber schuf sie mit der gleichzeitigen Proklamierung der Schirmherrschaft des bayerischen Staates über die Sudetendeutschen sowie der Unterstützung der Forderung "Recht auf Rückkehr" ein sudetendeutsches Sonderbewusstsein. Zu greifen ist diese Ambivalenz bayerischer Identitätspolitik selbst noch in empirischen Erhebungen der 80er Jahre, als die in Bayern wohnhaften Sudetendeutschen zwar eine geringere Rückkehrorientierung als im bundesweiten Vergleich demonstrierten, gleichzeitig aber auch ein geringeres Gefühl vollständiger Integration artikulierten ("Identitätsgap"). Zugleich blieb die Bezeichnung "vierter Stamm" bis heute ein Elitebegriff, der sich nicht in der Gesellschaft durchsetzen konnte.

Wie vielschichtig und komplex nicht nur die personalen Identitäten der aus der Heimat vertriebenen, sondern auch der in der Heimat verbliebenen Sudetendeutschen zu begreifen sind, verdeutlichte die Ethnologin Katharina Eisch (Glasmuseum Frauenau), indem sie sich auf "Erzählgänge" in die "namenlose" tschechische Landschaft entlang der Grenze zu Bayern begab. Stück für Stück versuchte sie, die in Schichten übereinander gelagerten und in Narration konstruierten Identitäten freizulegen, wobei sie betonte, dass die von ihr Befragten, von denen manche bis zu vier Mal die Staatsbürgerschaft gewechselt hatten, nationale Zugehörigkeit als zufällig und optativ gesehen hätten. Als Gemeinsamkeit von Grenzländern seien sowohl ständig wechselnde Wir-Perspektiven infolge von Zweisprachigkeit und polykultureller Kompetenz als auch das Gefühl des Abgeschobenseins und der Marginalisierung kennzeichnend. Die Randlage gebe Anlass zu Verstummen, bevor man zum Erzählen begonnen habe. Insofern sind Grenzen, die schon der Definition nach als unüberschreitbar zu gelten haben, für die Identitätsarbeit von Einwohnern der Grenzregionen konstitutiv.

Mit welchen methodischen Mitteln man sich diesen personalen Identitäten empirisch annähern kann, verdeutlichte schließlich der Psychologe Wolfgang Kraus (Institut für Praxisforschung und Projektberatung). Ausgehend von den Prämissen, dass es sich bei Identität um einen offenen Prozess handle, der "Identitätskapitel" (personale, soziale, kulturelle, materiale Ressourcen) bedinge und lebensweltlich disparat durch Selbsterzählung erzeugt werde, formulierte er als methodisches Ziel von qualitativen Interviews ihre narrative Anlage, die Abbildung der Lebenswelten, die Identifizierung der Ressourcen sowie die Darstellung von Dynamik und Spannung (Materialien zum Vortrag als Download unter www.ipp-muenchen.de). Hilfreich zur Erlangung dieser Ziele seien u.a. ein erzählfördernder Interviewleitfaden, erzählgenerierende Impulse oder Perspektivwechsel. Grundsätzlich sollten sich Interviews in der Identitätsforschung orientieren auf Fakten ("Was ist geschehen?"), Empfindungen, Sinnkonstruktionen (Bewertung, Einschätzung, Begründung) sowie Ressourcen und Optionswahrnehmung.

Identität, so verdeutlichte der Studientag, ist zwar - vor allem als kollektiv gedachte Konstruktion - theoretisch wie methodisch schwer fassbar. Gleichzeitig aber lohnt sich ihre wissenschaftliche Bearbeitung, da sie kontextgebunden Handeln präjudiziert, dem Dialog auch zwischen Deutschen und Tschechen in direkter Nachbarschaft oftmals verborgene und zu wenig beachtete Konturen gibt. Die Frage, wie Identitätskonstruktionen über ihren primären Kontext hinaus normativ handlungsleitend sein können, bleibt - wiederum vor allem im Bereich von auf Kollektiven gerichteten Identitätskonstruktionen - offen.


Referenten

Dr. Michael Weigl, Centrum für angewandte Politikforschung:
Die Bedeutung der Geschichte für die Konstituierung regionaler Identität im bayerisch-böhmischen Grenzraum

Christian Hügel, Ludwig-Maximilians-Universität München/Junge Union Bayern:
Die Bedeutung der Euregio Bayerischer Wald - Böhmerwald für die Konstituierung regionaler Identität im bayerisch-böhmischen Grenzraum

Dr. Katharina Eisch, Glasmuseum Frauenau:
Die Bedeutung der Grenze für die Konstituierung regionaler Identität im bayerisch-böhmischen Grenzraum

K. Erik Franzen, Collegium Carolinum e.V. München:
Die Bedeutung der Integration der Heimatvertriebenen für die bayerische Identität nach 1945 am Beispiel der Sudetendeutschen

Dr. Wolfgang Kraus, Institut für Praxisforschung und Projektberatung München (IPP):
Qualitative Methoden in der Identitätsforschung


Ansprechpartner

Dr. Michael Weigl
E-mail: michael.weigl@lrz.uni-muenchen.de

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Aktualisiert am: 18.02.2004   Impressum | Design by [meteme.de]   Seite drucken | Seitenanfang