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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08. Juni 2002 Europa muß an sich selbst glaubenVon Angela Merkel Welche Strukturen braucht die europäische Kooperation? Ich bin entschieden der Meinung, daß wir uns erst einmal darüber klarwerden müssen, welche Aufgaben wir nach Europa geben wollen, bevor wir über die geeigneten Strukturen nachdenken. Manche europäische Debatte scheint mir in dieser Hinsicht falsch herum zu laufen. Ich glaube, wir finden die passenden Strukturen besser, wenn wir in den Beratungen des Verfassungskonventes erst einmal klären, was gemeinschaftlich und was national gelöst werden soll. Was die Frage der militärischen Zusammenarbeit angeht, sind wir in einer Doppelposition. Viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind auch Mitglied der Nato. Die Nato versteht sich als eine Wertegemeinschaft genauso wie sich die Europäische Union als eine Wertegemeinschaft versteht. Amerikanische Gesprächspartner stellen einem immer wieder die Frage: Wie halten Sie es eigentlich mit der Verteidigung Ihrer Freunde in der Europäischen Union, die nicht Teil der Nato sind? Um ein Beispiel zu nennen: Es könnte bald dazu kommen, daß die baltischen Staaten Mitglied der Nato und der EU werden - während ein Land wie Finnland weiterhin seine militärische Neutralität vor sich herträgt. Viel interessanter ist aber die Frage: Was kann Europa, wenn es denn eine eigene Identität in den Verteidigungsfragen haben will? Was will Europa in die Gemeinschaft der Nato hineingeben? Ich glaube, daß Europa hier Farbe bekennen muß. Es zeigt sich ja bei allen militärischen Einsätzen, daß die Amerikaner die Hauptlast zu tragen haben, ähnliches gilt für den Kampf gegen den Terrorismus. Hier hat sich eine dramatische Unterlegenheit der europäischen Staaten gezeigt. Wir müssen in Zukunft sehr viel mehr für sicherheits- und verteidigungspolitische Anstrengungen ausgeben. Ich glaube, daß man auch von den Amerikanern im Rahmen der Wertegemeinschaft der Nato verlangen kann, daß sie sich, was die Abschottung auf etlichen technischen und wissenschaftlichen Gebieten betrifft, den Europäern gegenüber mehr öffnen. Aus der militärischen Stärke wird sich in einem gewissen Maß auch eine außenpolitische Stärke entwickeln. Ich glaube, daß es für die europäische Identität unabdingbar ist, daß Europa in den außenpolitischen Fragen möglichst mit einer Stimme zu sprechen lernt. Da gibt es Fortschritte, oft aber überwiegt noch die Diffusität. Wann immer wir amerikanischen Boden betreten, verstehen es unsere amerikanischen Freunde hervorragend, uns ohne jede Süffisanz auf die kleinen Nuancen zwischen Frankreich, England, Deutschland und anderen Ländern hinzuweisen - und dann fragen sie: Wem, bitte schön, sollen wir denn glauben? So verspielen wir viel von der Kraft, die eigentlich in die Waagschale geworfen werden sollte. Warum sollte sie in die Waagschale geworfen werden? Die Frage führt zu einer ganz wichtigen Frage - zur Frage, wie sich Europa in der Zeit der Globalisierung als offener Kontinent und zugleich als ein Kontinent mit einer eigenen Identität verstehen und empfinden kann. Wie verarbeiten die Europäer die vollkommen neue Wettbewerbssituationen? Und wie schaffen sie es, die europäische Identität auch nach außen zu vertreten? Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir in unseren Diskussionen über Sicherheit und Selbstbehauptung auch noch einmal über die kulturellen Gemeinsamkeiten innerhalb der Europäischen Union nachdenken: Wird es so etwas wie eine europäische Identität geben? Ich plädiere dafür möglichst viele europäische Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, denn ich glaube, daß diese empfundenen Gemeinsamkeiten ganz wichtig dafür sind, daß sich die Bewohner Europas in ihrem Kontinent zu Hause fühlen. Dies aber nicht um den Preis, daß wir ökonomisch zurückfallen. Hier komme ich zu einer weiteren zentralen Frage: Ist die Soziale Marktwirtschaft in der Lage, auch unter den neuen Bedingungen der Globalisierung ein geeignetes Ordnungsmodell abzugeben? Ich glaube, das muß gelingen, wollen wir ein Gegengewicht zu den Amerikanern darstellen. Bei internationalen Verhandlungen zeigt sich immer wieder, daß sich Europa dann gut behauptet, wenn es einig ist. So sind die Vorstellungen zum Umweltschutz innerhalb der Europäischen Union ziemlich einheitlich, und das ist ein Grund dafür, daß viele Entwicklungsländer große Hoffnugen in die Europäer setzen und zum Teil die Amerikaner mit ihrer ziemlich harten Verweigerungspolitik ein Stück weit in die Defensive gedrängt werden können. Schaffen wir es, zu einem europäischen Verständnis einer Sozialen Marktwirtschaft zu kommen? Hier geht es um eine Reihe von höchst interessanten Problemen. Wofür ist die Welthandelsorganisation verantwortlich? Wie sehen die Schlichtungsverfahren aus? Sollen dort Fragen von sozialen und ökonomischen Standards mitbehandelt werden oder nicht? Wo sind die Orte, an denen über solche sozialen und ökologischen Standards gesprochen wird? Welche Rolle kommt den Vereinten Nationen zu, welche der Weltbank, welche dem International Währungsfonds, welche der Welthandelsorganisation? Dieser Rahmen ist noch nicht geschaffen, und es ist noch längst nicht klar, was Europa in diesen Fragen will. Ich glaube, daß sich ein Teil der Auseinandersetzungen über die Frage, wie Europa und wie Amerika sich die Welt vorstellt, gerade auch in den Handelsauseinandersetzungen der Zukunft widerspiegeln wird. Wer heute über Europa spricht, muß auch das Phänomen des Rechtspopulismus im Auge haben. Die Rechtspopulisten sind ein Indiz dafür, daß bestimmte Probleme nicht gelöst sind. Es gibt Menschen, die den Eindruck haben, sie würden ihrer Wurzeln und ihrer Traditionen beraubt. Diesem Eindruck muß Politik entgegentreten. Auch dadurch, daß sie deutlich macht, daß der Nationalstaat, aller notwendigen Integration zum Trotz, seine Bedeutung behalten wird. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die großen Volksparteien in Europa hier die ganz wichtige Aufgabe haben, die Menschen immer wieder in die Demokratie zu integrieren. Es kann dabei nur um Integration gehen - nicht darum, dumpfe Gefühle zu bedienen. Aufgabe der Volksparteien ist es, soviel wie möglich zu integrieren und zu verhindern, daß Raum und Möglichkeiten für dumpfe Gefühle überhaupt entstehen. Man muß die Probleme, die die Leute empfinden, ansprechen, muß das aber auf verantwortungsvolle Weise tun. Erlauben Sie mir hier eine Nebenbemerkung: Es ist schon ein bißchen paradox, daß Herr Möllemann offensichtlich versucht, sich ein wenig auf dem Gebiet des Rechtspopulismus zu bewegen. Denn die FDP ist ja eigentlich eine Partei, die auf viele Probleme, die die Menschen in Deutschland beunruhigen, in einer Weise reagiert, die sehr weit von den Erwartungen des Großteils der Bevölkerung entfernt ist. Das betrifft etwa die Fragen der inneren Sicherheit, der Zuwanderung, der Integration, der Familienpolitik: Auf all diesen Politikfeldern stehen die Liberalen sicher nicht in der Ecke, in der die Sorgen und Ängste der Menschen zu Hause sind. Zusammenfassend: Ich halte für die Ausgestaltung einer globalisierten Welt die Rolle Europas für extrem wichtig, weil Europa von seinem Menschenbild her weit über Deutschland hinaus ein Freiheitsverständnis hat, das sehr stark mit Verantwortung dem anderen gegenüber verbunden ist. Europa steht vor der Frage, ob es in den nächsten 10, 20, 30 Jahren weiter ganz vorne dabei ist. Wer sich die Bewertung des Euro anguckt, spürt, daß Europa ökonomisch nicht die allerkräftigsten Potentiale zugetraut werden; er spürt, daß wir in manchen Teilen der Welt als alternder Kontinent gelten, als einer, dem die Innovationskraft fehlt. Ich kann nur möglichst vielen Europäern raten, sich viel außerhalb Europas aufzuhalten, um die Neugierde, die Tatkraft, die Lust vieler im asiatischen Raum, vieler auch im amerikanischen und lateinamerikanischen Raum zu beobachten, das zu schaffen, was Europa schon geschafft hat. Wir können uns vieles verordnen - Rechtsansprüche auf Kindergartenplätze, Steuersätze und vieles andere. Ansprüche auf eine führende Stellung in der Welt können wir uns nicht verordnen, die müssen wir uns erarbeiten. Europa darf daher kein Kontinent der trotzigen Selbstbehauptung sein. Es muß wieder ein innovativer, freudiger und an sich selbst glaubender Kontinent werden. Dieser Text beruht auf einer Rede, die auf dem von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und dem Deutschland-Radio Berlin zusammen mit dem Centrum für angewandte Politikforschung veranstalteten Forum Fazit: Europa in Berlin gehalten wurde. |