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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06. Juni 2002 Souveränität kann nur noch gemeinsam ausgeübt werdenDas Vetorecht abschaffen, die Kommission stärken, die nationalen Parlamente einbeziehen Von Rocco Buttiglione, Europaminister der Republik Italien Vor gar nicht langer Zeit schien die Idee Europas ganz unpopulär geworden zu sein. Die Globalisierung schien den Nutzen europäischer Institutionen zu mindern. Es war leichter, auf den Weltmärkten das Glück alleine zu suchen - wie Hongkong oder Singapur. Wir lebten damals in einer Welt ohne Politik. Nur der Markt zählte. Und auf dem Markt schwimmen wir am besten alleine. Doch dann kam der 11. September, und plötzlich wurde die EU wieder populär. Wieso? Weil die Ereignisse jenes Tages das Bewußtsein dafür schärften, wie sehr wir die Politik brauchen. Carl Schmitt definierte Politik als die Entscheidung zwischen Frieden und Kriegen. Frieden war uns etwas Selbstverständliches, aber plötzlich wurde uns bewußt, daß der Frieden doch nur ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Europa hat nie zuvor 57 Jahre Frieden erlebt, und auch in diesen Jahren war in der Welt der Frieden eine Ausnahme. Frieden in Europa ist nicht selbstverständlich, er ist das Resultat mutiger politischer Entscheidungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg getroffen wurden. Heute müssen wir wieder Entscheidungen von ähnlichem Gewicht treffen. Wenn es die richtigen sind, werden wir dann Frieden in diesem Jahrhundert haben. Sonst könnte diese Ausnahme in der Geschichte Europas bald ein Ende finden. Deshalb ist Europa so wichtig. Europa ist eine Sache der Politik, nicht zuerst des Marktes. Der Markt ist nicht der Zweck, sondern das Hauptmittel der Europäischen Union, des europäischen Aufbaus. Was ist die Idee der Union, der Europäischen Gemeinschaft, des gemeinsamen Marktes? Jede Nation, jeder Bürger soll das einkaufen, was er will, wo er will. Er kann das durch die eigene Anstrengung verarbeiten und wiederverkaufen, wo er will und wie er will. Es entsteht dann ein gemeinsamer Markt, und auf diesem gemeinsamen Markt konnten wir alle zusammenwachsen. In wenigen Jahren haben wir einen Wohlstand erreicht, der schon vor dem Kriege fast undenkbar gewesen wäre und der erst recht nach dem Kriege auf dem Trümmerhaufen der Niederlage nicht denkbar war. Die Idee der sozialen Marktwirtschaft hat unser Konzept in der Vergangenheit von Europa bestimmt. Wenn wir heute von Europa reden, dann müssen wir uns die Frage stellen, wie wir heute den Frieden sichern können. Die Antwort ist vielschichtig: durch die Erweiterung, mit der Einbeziehung Rußlands - obschon dieses Land nicht in 15 und nicht in 20 Jahren Mitglied der EU werden kann -, mit einer vorausschauenden Politik für den Mittelmeerraum. Ohne die wird es keinen Frieden in Europa geben. Andere sind nicht so sehr gegen Europa, sondern gegen Regierungen, also die, die behaupten, daß in Europa sowieso schon zuviel regiert werde. Die fürchten sich, daß das reformierte Europa mehr Bürokratie, mehr Regierung, mehr Gesetze und weniger Freiheit, weniger Spielraum für den einzelnen und für die Gemeinden mit sich bringen werde. Aber das Europa, das wir wollen, ist nicht ein Superstaat im Sinne einer überfließenden Staatlichkeit, die alle Bereiche des Lebens zu bestimmen sucht. Aber im Stichwort "gegen den Superstaat" steckt auch eine andere Bedeutung. Wir wollen, daß Europa eine gewisse Staatlichkeit erlangt - nicht im Sinne des traditionellen Staatsrechts und der souveränen Staaten. Diese Souveränität ist vergangen. Die Souveränität wird in der Welt von heute qualitativ getrennt in verschiedene Dimensionen. Diese verschiedenen Souveränitäten interagieren miteinander, ohne daß irgend jemand sich als absolut souverän stellen könnte. Wir brauchen Reformen, wir brauchen eine stärkere demokratische Legitimation. Die demokratische Legitimation der europäischen Institutionen liegt heute zuerst im Europäischen Rat. Hier sitzen die Leute, die das Vertrauen der Völker haben. Die Rolle des Europäischen Rates muß gefestigt werden: als Ideengeber und als politisches Führungsorgan, so wie ein Präsident der Republik. Es wird also eine Art kollektive Präsidentschaft sein, die natürlich auch einen Sekretär haben könnte. Eine kollektive Präsidentschaft braucht ein exekutives Organ. Das gibt es bereits: die Kommission. Die Kommission kann die Regierung Europas werden, aber nicht wie in Deutschland, sondern eher wie in Frankreich oder wie in Italien, wo der Präsident der Republik die Regierung ernennt, die aber das Vertrauensvotum des Parlaments braucht. Das würde einen besseren Ausgleich geben: eine gestärkte Kommission, die der politischen Führung des Europäischen Rates unterstünde. Diese gestärkte Kommission muß enger mit dem Parlament und mit dem Ministerrat verbunden werden. Es gibt freilich zu viele Ministerräte. Dies stiftet Unordnung. Und es fehlt an demokratischer Kontrolle, weil das Europäische Parlament in vielen Fragen nicht mitbestimmen kann und weil die nationalen Parlamente nicht die Mittel haben, um die Ministerräte zu kontrollieren. Wir müssen die Zahl der Ministerräte verringern, damit sie von den nationalen Parlamenten besser kontrolliert werden können, und wir müssen stärker die nationalen Parlamente einbeziehen. Tun wir das, dann können wir das Vetorecht abschaffen. Das ist grundlegend. Das Vetorecht steht am Anfang der Bürokratisierung der europäischen Institutionen. Die Kommission gewinnt eine die Grenzen des Vertrages überschreitende Macht, weil sie die einzige Institution ist, die nicht gelähmt, nicht paralysiert ist. Statt die Souveränität zu bewahren, ist das Vetorecht zu einem großen Hindernis geworden, um die Souveränität zusammen auszuüben. Das ist der springende Punkt. Die Souveränität kann nur von allen zusammen ausgeübt werden. Nur dann ist die Souveränität wirklich, nur dann hat sie eine reale Wirkung. Sonst wird die Souveränität nur ein Mittel, um gemeinsames Handeln zu verhindern in einer Zeit, wo isoliertes Handeln ebenso unmöglich ist. Dieser Text beruht auf einer Rede, die auf dem von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und dem Deutschland-Radio Berlin zusammen mit dem Centrum für angewandte Politikforschung veranstalteten Forum Fazit: Europa in Berlin gehalten wurde. |