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Süddeutsche Zeitung vom 29. Oktober 2001

Ein Torso mit beispiellosen Möglichkeiten

Von Stefan Ulrich

Die Europäische Union - derzeit ein Basar nationaler Interessen - muss sich noch einmal von Grund auf reformieren

Werner Weidenfeld (Hrsg.): Nizza in der Analyse. Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2001. 352 Seiten.


Eigentlich war es kaum mehr möglich, die Europäische Union noch komplizierter, noch undurchschaubarer und noch bürgerferner zu gestalten. Die Staats- und Regierungschefs der 15 Mitgliedsländer aber haben es in gemeinsamer Anstrengung geschafft. Bei ihrem Gipfeltreffen an der französischen Riviera wollten sie vergangenen Dezember einen Reformvertrag aushandeln, der die EU auf eine Erweiterung von derzeit 15 auf bald 27 Mitglieder vorbereiten sollte. Herausgekommen ist - nach dem längsten Europa- Gipfel aller Zeiten - der Vertrag von Nizza.

Erweiterungsreif

Die Staatenlenker gratulierten sich dazu und erklärten ihre Union von Stunde an für erweiterungsreif. Aus den Kandidatenstaaten im Osten kam sogar viel Beifall. Im Westen des Kontinents aber, in Deutschland zumal, war das Urteil von Wissenschaft und Medien verheerend. Nizza wurde zur Chiffre für einen rücksichtslosen Nationalegoismus, für europäischen Stillstand und Verrat an den Gründeridealen. Und mancher zweifelte, ob die Gemeinschaft in dieser Verfassung ihre Erweiterung überhaupt überleben würde.

Eines der erfahrensten EU-Expertenteams in der Bundesrepublik hat nun versucht, den Nebel von Nizza zu lichten und dem Vertragswerk gerecht zu werden. Mit dem von Werner Weidenfeld herausgegebenen Band "Nizza in der Analyse" legt die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik am Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) in München eine fundierte, im Ergebnis fast noch zu nachsichtige Abrechnung vor. Das Resultat: gerade noch ausreichend. Europa ist demnach zwar formal aufnahmebereit für die Kandidatenstaaten im Osten, tatsächlich aber schlecht vorbereitet.

In der Einzelanalyse fällt die Beurteilung erfrischend schonungslos aus. Claus Giering geht die Vereinbarungen Stück für Stück präzise durch. Er beschreibt die Erwartungen an den Gipfel, umreißt die Lösungsmöglichkeiten, schildert den Diskussionsverlauf und bewertet die Ergebnisse. Auf der Haben- Seite scheint da wenig auf: Die Stellung des Kommissionspräsidenten wurde gestärkt, die Zusammensetzung des Europaparlaments demokratischer gestaltet. Doch das Soll überwiegt fast erdrückend. Danach hat Nizza die Union "mit einer schweren, strukturellen Hypothek belegt". Der Gipfel wurde nicht genutzt, "um die Entscheidungsfähigkeit zu verbessern, sondern um neue Schranken und damit Verhinderungsmacht aufzubauen". Zudem wurde "durch eine kaum nachvollziehbare Regierungskonferenz ein kaum mehr nachvollziehbarer Text" geschaffen.

Im Einzelnen wird vor allem kritisiert, dass die Zahl der EU- Kommissare im Falle einer Erweiterung nicht vernünftig begrenzt wurde, und dass die Entscheidungsmechanismen im Rat, dem mächtigsten Organ der Europäischen Union, noch wesentlich komplizierter als bisher gestaltet wurden. Zudem hat es der Gipfel versäumt, die Politikbereiche, in denen mit Mehrheit statt wie bisher einstimmig entschieden werden kann, deutlich auszuweiten, um so die Gemeinschaft auch nach ihrem Anwachsen handlungsfähig zu erhalten. Auch eine spürbare Aufwertung des Europäischen Parlaments wurde verpasst. Giering kommt daher zu der vernichtenden - aber gleichwohl realistischen - Einschätzung: Den Staats- und Regierungschefs sind ihre "Statusfragen in Rat und Kommission offensichtlich wichtiger als die Stärkung der Demokratie in der Europäischen Union".
Neben dieser - trotz des komplexen Themas sehr verständlich geschriebenen - Analyse der Institutionenreform nimmt sich der Sammelband noch anderer Schlüsselbereiche der Europa-Debatte an und gibt so einen guten Überblick über den aktuellen Stand der EU-Diskussion. So wird die auch auf dem Gipfeltreffen in Nizza behandelte "verstärkte Zusammenarbeit" bewertet, also die Möglichkeit für willige und fähige Staaten, bei der Integration voranzuschreiten. Auch die neue Grundrechtecharta und die sich gerade entwickelnde Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) werden erörtert. Franco Algieri sieht die Union nach Nizza vor der Aufgabe, ihr nichtmilitärisches und militärisches Potential zusammenzuführen, weiterzuentwickeln und einsetzbar zu machen. Gelinge dies, dann "kann die Europäische Union als Akteur die internationale Politik nachhaltig mitgestalten".

Dennoch: Bei allen Fortschritten der Integration jenseits von Nizza bleibt schließlich das Verdikt Werner Weidenfelds haften: "In der Europäischen Union klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander." Und es drängt sich die Frage auf: Wenn politische Führung in einer Europäischen Union der 15 nicht funktioniert, wie soll sie dann mit 28 Mitgliedstaaten gelingen?

Aus Europa ist demnach "ein Basar nationaler Interessen" geworden. Und nach einem halben Jahrhundert Einheitsstreben führt immer noch Macchiavelli Regie. Die Folge: "Mit den Ergebnissen von Nizza hat die Europäische Union kein angemessenes Regierungssystem für eine Gemeinschaft von mehr als 20 Staaten erhalten."

Charakter der OSZE

Weidenfeld beschreibt nun zwei mögliche Entwicklungen. Die eine: Die erweiterte EU verabschiedet sich von der Vorstellung eines föderalen Europas mit staatsähnlicher Qualität und beschränkt sich darauf, einen neuen, großen Stabilitätsraum auf dem ganzen Kontinent zu errichten, ein krisenregelndes System kollektiver Sicherheit, ergänzt um einen gemeinsamen Markt.

Eine solche Union würde mehr dem Charakter des Europarats, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder der Vereinten Nationen ähneln als dem Ideal von Europas Gründergeneration. Die andere Alternative: Europas Eliten erkennen die Gefahren der Stunde. Sie wagen den großen Schritt nach vorne, geben der Union eine klare Verfassung und setzen den "Schlussstein in das Gewölbe der Integration". Zumindest eine Kerngruppe von Mitgliedsländern wagt dabei die "Staatswerdung" Europas.
Nizza kann also zweierlei bedeuten: Die Abkehr vom Ideal des vereinten Kontinents oder doch nur ein vorübergehendes Aufbäumen des Nationalismus, das in künftigen Reformrunden überwunden wird. Trotz aller Enttäuschungen in Nizza sieht der Politikprofessor Werner Weidenfeld für Europa "historisch beispiellose Möglichkeiten". Es muss sie nur noch nutzen.


   
           
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