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Die Welt vom 31. Mai 2001

Ohne Amerika bleibt Europa orientierungslos

Die Europäer sitzen in der Emanzipationsfalle: Sie befreiten sich aus der amerikanischen Bevormundung, ohne laufen gelernt zu haben

Von Werner Weidenfeld


Im Verhältnis zwischen Deutschland, Europa und Amerika ist das Ende der fast fünfzig Jahre geltenden Selbstverständlichkeiten angebrochen. Die transatlantische Gemeinschaft, wie wir sie aus dem Kalten Krieg und der Zeit des Ost-West-Konflikts kennen, existiert nicht mehr. Zwar besteht die Sicherheitsgemeinschaft zwischen Amerika und Europa fort, doch ohne die Strukturen, die Präsenz und die Mentalität einer hochintegrierten, jederzeit einsatzbereiten und auf die Abwehr eines großen Angriffs ausgerichteten Verteidigungsorganisation. Zwar besteht die politische Gemeinschaft über den Atlantik fort, doch ohne die besondere Sensibilität für die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen. Zwar besteht die Gemeinsamkeit der Werte fort, doch fehlt ihnen die Bestimmung ihres spezifischen Beitrags im Blick auf die neuen Fragen der internationalen Politik. Seit Beginn der neunziger Jahre lebt die Verbindung zwischen Europa und Amerika in den Kulissen westlicher Kooperation vom Kapital an Übereinstimmung und Vertrauen, das in den letzten Jahrzehnten aufgebaut worden ist. Bleibt diese Erneuerung aus, so droht ein Kulturbruch, in dem die persönlichen Erfahrungen, die Strukturen und Kooperationswege, die Erfolge wie die Erfahrungen verloren gehen.
Wenn heute der transatlantische Dialog offiziell politisch gepflegt wird, geschieht dies häufig mit der erklärten Absicht, das Bild der Freundschaft der letzten 50 Jahre weiter zu pflegen. Dabei wird übersehen, dass diese Intensität der Beziehung Teil einer besonderen historischen Konstellation war. Es wäre unhistorisch zu meinen, nach dem Verschwinden dieser Konstellation müsse die Verbindung unverändert bleiben. Dabei haben die europäisch-amerikanischen Beziehungen durch die verschiedenen historischen Epochen unterschiedliche Ausdrucksformen gefunden.

Die Geschichte der europäisch-amerikanischen Partnerschaft beginnt ja nicht erst mit dem Marshallplan, sie geht zurück bis in die Gründerzeit der Vereinigten Staaten. Seit der Besiedlung Nordamerikas blieben Europa und Amerika aufeinander bezogen und miteinander verbunden wie sonst keine anderen Regionen der Welt. Amerika entstand aus der Ideenwelt der europäischen Aufklärung: Vernunft, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Demokratie. Der Fortschrittsidealismus der europäischen Aufklärung ist die Quelle des "American Dream". Für viele Europäer wurde die Entscheidung zur Auswanderung nach Amerika zu einem Akt der Selbstbefreiung von bedrückenden europäischen Zwangslagen. Im Aufbau Amerikas entstand mit den Idealen der Alten Welt eine Neue Welt. In dieser besseren Welt sollte der Ideenreichtum des alten Kontinents schneller und direkter verwirklicht werden, als es ein in quälenden, oft blutigen Konflikten verfangenes Europa vermochte.

Neben diesem ideengeschichtlichen Beitrag Europas zur Gründung der Neuen Welt wurden auch die praktischen Grundlagen zum Aufbau der amerikanischen Gesellschaft, das Rechts- und Verwaltungssystem, die Religion und die Sitten aus Europa mitgebracht. Sie trugen dazu bei, dass die Amerikaner immer Europa als den Kontinent betrachteten, aus dem ihre Wurzeln stammten und ohne den die eigene Identität nicht begriffen werden konnte.

Von Beginn an existierten aber auch Ambivalenzen im europäisch-amerikanischen Verhältnis. Amerika war entstanden aus dem Bedürfnis der Distanz von den Händeln des alten Europa. Der neue Staat setzte sich bewusst ab von dem traditionellen Machtbalance-Denken Europas, seinen permanenten kriegerischen Abenteuern im Dienste feudaler oder absolutistischer Regenten, seinem Ständedenken und seiner religiösen Intoleranz. Amerika und Europa sind sich also von Beginn an ihrer Verschiedenheit, aber auch ihrer wechselseitigen Anziehungskraft und Abhängigkeit bewusst. Diese dialektische Spannung hat der Beziehung zwischen beiden Kontinenten schon in der Frühzeit eine Dynamik verliehen, die in Zeiten des Ost-West-Konflikts durch den weltpolitischen Antagonismus verdeckt wurde.

Insbesondere in den Anfängen des Kalten Krieges stand deshalb auf beiden Seiten das Atlantiks die Dramatisierung des Positiven im Vordergrund. Vor allem in der Bundesrepublik Deutschland galten die USA als Vorbild schlechthin, als das zu kopierende Modell. Ein Nachahmungssyndrom wurde dominant. Die Parallelität starker antikommunistischer Affekte verliehen der Anlehnung an die westliche Großmacht zusätzliche Identität. Jenseits des Atlantiks galt Europa im Gefolge des Marshallplans als Ausfluss der Realisierung des "American Dream".

Insbesondere die Bundesrepublik galt in diesen Jahren als ein Amerika "en miniature". Der Wiederaufbau der Demokratie wurde als Re-Import der europäischen Aufklärung aus den USA verstanden. Die Verbindung von stabiler Demokratie und hohem ökonomischem Wachstum ließen den deutschen Partner als Emanation amerikanischer Ideale erscheinen.

Die zweite Epoche der europäisch-amerikanischen Nachkriegsbeziehungen begann mit dem Ende der sechziger Jahre. Charakterisiert wird diese Phase durch die Dramatisierung des Negativen. Die USA wurden kulturell von vielen zum Inbegriff des Abgründigen und der sichtbare Ausdruck für all das, was in der bestehenden Ordnung der Dinge verwerflich und mithin ablehnenswert war. Gewachsenes europäisches Selbstbewusstsein tat das Seine, um solche Einstellungen zusätzlich zu beflügeln. Der Verlust des Vorbildes wurde aber zugleich zu einem Auslöser der Identitätsdebatte unter den Europäern. Besonders ausgeprägt war dieses Phänomen in Deutschland, dem traditionell treuesten Verbündeten der USA. Auf die Fragen "Wer sind wir?" und "Wie wollen wir sein?" konnte es einfache Antworten wie "So ähnlich wie die Amerikaner" nicht mehr geben. Diese Nachdenklichkeiten der Deutschen über sich selbst fanden ihr Echo jenseits des Atlantiks: Der deutsche Partner wurde dort von manchem als unsicherer Kantonist empfunden, der nun doch wieder mit jener alten deutschen Chimäre, einem Sonderweg zwischen Ost und West, liebäugelte. Die dritte Epoche brachte dann in den achtziger Jahren die Entdramatisierung des Negativen wie des Positiven. Die USA wurden in Europa weder als glorifiziertes Vorbild verehrt noch als Anti-Macht abgelehnt.

Das Ergebnis des Rückblicks ist eindeutig: Die Geschichte der Beziehungen zwischen Europa und Amerika birgt eine Vielfalt kultureller Stoffe. Sie weisen Erfahrungen der Nähe wie der Distanz auf. Die Sonderlage des Ost-West-Konflikts bietet nur einen relativ kleinen Ausschnitt, der nicht verallgemeinert werden darf. In der Gegenwart ist der gesamte Vorrat der Kulturbestände wieder freigesetzt. Alle traditionellen Ambivalenzen bieten die Folie für die aktuellen politischen Entscheidungen.

Amerika hatte viele Gründe, sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zu engagieren - weltpolitische, sicherheitspolitische wie ökonomische. Im Kern aber war es ein überragendes politisch-kulturelles Motiv: Die USA verteidigten in Europa ihren eigenen Traum von sich selbst. Dem Ethos der Freiheit weltweit Geltung zu verschaffen, gehört zu den elementaren innenpolitischen Kategorien. In Berlin wurde Amerikas Traum der Neuen Welt verteidigt. Berlin setzte in Amerika innenpolitisch höchst relevante Gefühle frei. Folgerichtig löste der Fall der Mauer in den USA mindestens so intensive Gemütswallungen aus wie in Deutschland selbst. Über Jahrzehnte war Deutschland und Europa ein in den USA jederzeit innenpolitisch emotionalisierbares Thema. Diese feste innenpolitische Größe ließ ein außergewöhnliches Engagement für den generationsübergreifenden Bestand einer Sicherheitsallianz zu.

Diese Zeiten sind nun vorbei. Berlin ist zu einem geographischen Begriff geschrumpft. Die Europäer haben die Tragweite dieser fundamentalen Veränderung bis heute nicht wahrgenommen. Von der Balkan-Politik über die Raketenabwehr bis zum Klimaschutz - in den USA regiert die Innenpolitik. Die von ihr vorgegebenen Handlungsmargen sind das Maß aller außenpolitischen Dinge.

In der Konsequenz bringt dies nicht einen neuen amerikanischen Isolationismus oder eine anti-europäische Disposition. Europa wird lediglich aus seiner früheren privilegierten Rolle in die interessengeleitete Normalität entlassen. Wenn es die jeweilige Lage gebietet, wird die Zusammenarbeit gesucht. Unübersehbar ist dann oftmals das amerikanische Unverständnis für das politische Produkt, das Europa liefert. Amerika begreift nicht die langwierigen, komplexen Entscheidungsprozeduren der Europäischen Integration. Zu schwerfällig, zu ineffizient, zu langsam vollzieht sich das alles für den amerikanischen Partner. Ungläubige Skepsis auf amerikanischer Seite begleitet daher jede europäische Ankündigung zu einem neuen großen Schritt der Integration. Wird dann der Schritt vollzogen - von der Wirtschafts- und Währungsunion bis zur Verteidigungspolitik -, so droht die Skepsis jeweils in Misstrauen umzuschlagen. Umgekehrt ist auch auf europäischer Seite das Verständnis für die Bedingungen des amerikanischen Partners limitiert: Als beispielsweise seinerzeit die Balkan-Krise in einen Krieg umzuschlagen drohte, bemühten sich die Europäer, Washington zu militärischer Präsenz zu überreden. Dies blieb zunächst erfolglos, weil die amerikanische Öffentlichkeit jegliches Interesse am Balkan vermissen ließ. Die Europäer waren geschockt, machten sie doch erstmals seit Jahrzehnten die Erfahrung amerikanischen Desinteresses. Als später die amerikanischen Medien die Bilder der Greueltaten vom Balken über den Atlantik lieferten, änderte sich die Atmosphäre. Als Amerika auf dem Balkan eingriff, beschränkte es sich nicht mit einer Nebenrolle, sondern übernahm gleich den Schauplatz. Sie drängten die Europäer an den Rand. Dem Partner blieb nur noch die Aufgabe eines Ornaments - ein zweiter Schock für die Europäer. Die Konsequenz, die sie daraus zogen - Aufbau einer eigenen militärischen Kapazität -, wurde wiederum in Amerika nicht verstanden.

Das Beispiel Balkan zeigt einen elementaren Sachverhalt: Europa sitzt in der Emanzipationsfalle. Es befreit sich aus amerikanischer Bevormundung, ohne weltpolitisch laufen gelernt zu haben. Mit puristischer Schärfe interessiert Washington nur ein Sachverhalt: Was bringt Europa auf die Waage? Wo ist es in der Lage weltpolitische Verantwortung zu übernehmen? Nur dort, wo der europäische Output stimmt, wird Washington Europa wirklich ernsthaft zur Kenntnis nehmen.

Die USA sind sich bewusst, dass sie die einzig verbliebene Weltmacht sind. Das reduziert den Druck, dauerhafte Allianzen einzugehen. Aber auch eine singuläre Supermacht braucht begleitende Abstützungen. Dazu erscheint es nützlich, wenigstens zeitweise Partner zu haben. Dann können Lasten geteilt und Stabilitätspartnerschaften eingegangen werden. Aber auf gleichem Niveau sind diese Netzwerke nicht angesiedelt.

Für Amerika bleibt nur eine Macht, die mittelfristig in Augenhöhe auftreten könnte: China. Deshalb ist die strategische Phantasie der außenpolitischen Elite Amerikas heute ganz auf China fixiert. Gleichgültig, ob die amerikanische Analyse der chinesischen Datenlage zutrifft oder nicht - die Wirklichkeit wird durch die amerikanische Wahrnehmung definiert. Und die heißt: China ist die einzige Macht, die mittelfristig zu den USA aufschließen könnte. Aus der weltpolitischen Architektur, die geprägt ist durch den einsamen Hegemon, würde ein spannungsreiches Duopol. Das ist die große Herausforderung für Amerika.

Vor diesem Hintergrund werden auch Sachverhalte wie der Flugzeugzwischenfall symbolisch so bedeutsam. Hier geht es um erste, kleine Stellvertreterkämpfe, in denen die weltpolitische Muskulatur gespannt wird. Wo bleibt da Europa? Natürlich wäre es für die USA nützlich, einen europäischen Partner zu haben, der die Probleme lösen hilft. Die USA suchen arbeitsteilige Hilfe im Blick auf Iran, Irak, die Konfliktherde Afrikas. Aber ist Europa zu einer solchen Partnerschaft der Problemlöser fähig?

Diese Frage deckt das Defizit der Europäer auf. Es fehlt ihnen nicht an internationalem Potential; es fehlt die strategische Orientierung. Es fehlt ihnen das weltpolitische Kalkül. Und es fehlt ihnen eine nüchterne, klare Definition ihrer Interessen. Da führen die Europäer eine gemeinsame Währung ein, ohne eine begleitende wirtschafts- und finanzpolitische Debatte. Entsprechend locker können die Amerikaner die Spekulationen über den Euro als eine Weltreservewährung beobachten. Da bauen die Europäer eine eigene Streitmacht zur Krisenintervention auf. Aber kleinlich sparen sie an Ausstattung und Unterbau. Eine strategische Elite zur konzeptionellen Fundierung ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Also brauchen die Europäer die USA um ihre eigenen Defizite zu kompensieren.

Das Ergebnis ist eine strukturelle Asymmetrie: Die Weltmacht USA würde eine strategische Entlastung begrüßen, die ihr aber Europa nicht bieten kann. Das emanzipierte Europa braucht die strategische Führung Amerikas, ohne die es weitgehend orientierungslos bleibt. Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten brauchen sich beide Partner aber nicht mehr zur inneren Balance.

Auszug eines Aufsatzes, der Mitte Juni in der "Internationalen Politik" erschien.


   
           
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Aktualisiert am: 05.12.2002   Impressum | Design by [meteme.de]   Seite drucken | Seitenanfang