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NZZ, 19. März 2001 In der Moldau ist es fünf nach zwölfKein Ende der Misere nach dem Sieg der Kommunisten Noch vor wenigen Monaten hatten die Abgeordneten des moldauischen Parlamentes ein Husarenstück vollbracht, das noch in keinem der GUS-Staaten gelungen war: Sie spielten den zunehmend autoritär regierenden Präsidenten Lucinschi aus und verwandelten die Republik Moldau in die einzige parlamentarische Demokratie der Region. Folglich sollte nicht das Volk, sondern das Parlament Lucinschis Nachfolger bestimmen. An diesem Punkt jedoch versagten die Abgeordneten gleich viermal: Der 59-jährige Vladimir Voronin, der Kandidat der Kommunisti-schen Partei, scheiterte ebenso wie die Gegen-kandidaten. Verfassungsgemäss löste Lucinschi, der selbst erst gar nicht zur Wiederwahl angetreten war, das Parlament auf und setzte für den 25. Februar 2001 Neuwahlen an. Durchschnittseinkommen unter 30 DollarDoch der Hund hat sich in den Schwanz gebissen: Die Kommunisten errangen knapp 50 Prozent der Stimmen und damit komfortable 71 Parlamentssitze (bei einer Stimmbeteiligung von über 60 Prozent an der von der OSZE als «frei und fair» bezeichneten Wahl). Die zentristische Wahlallianz des bisherigen Premierministers Dumitru Braghis musste sich mit 19 Sitzen zufriedengeben, die Christlichdemokratische Volkspartei mit 11 Sitzen. Alle übrigen Parteien scheiterten an der Sechs-Prozent-Hürde. Die KP wird somit in den nächsten vier Jahren allein regieren, als erste KPdSU-Nachfolgepartei in einer parlamentarischen Demokratie. Zudem wird Voronin, ein einfallsloser Apparatschik der alten Schule, wohl demnächst vom neuen Parlament zum Präsidenten der Republik gewählt werden. Trotzdem sind Voronin und seine Genossen nicht zu beneiden. Lange ist es her, seit Präsident Clinton die Republik Moldau als «Modelldemokratie» für die Region apostrophierte, lange aber auch, seit die Weltbank die Reformansätze der Regierung in Chisinau lobte. Als Lucinschi 1996 zum Präsidenten gewählt wurde, erhoffte sich die Bevölkerung ein Ende des wirtschaftlichen Niedergangs. Der weltgewandte Lucinschi, dessen Reputation als Reformer noch aus den Jahren der Perestroika stammte, und seine Regierungschefs Sturza und Braghis liessen die Reformchance jedoch ungenutzt. Mittlerweile liegt die Inflation bei 26 Prozent, die offizielle Arbeitslosenquote bei 15 Prozent, das monatliche Durchschnittseinkommen unter 30 Dollar. Die ökonomische Talfahrt würde jeden Reformpolitiker ins Wanken bringen. Für die Mehrheit der Moldauer, die sich als Verlierer der Marktwirtschaft betrachten, wird auch der Kommunist Voronin die Zeit nicht zurückdrehen können. Die Republik ist von russischen Energielieferungen und westlicher Finanzhilfe gleichermassen abhängig. Die Energiepreise und die Rückzahlungsbedingungen für die Milliardenschulden der Moldau werden heutzutage eher vom Kalkül in der Chefetage der russischen Konzerne Gasprom oder Lukoil bestimmt. Mit einer Moskau gefügigen Politik können jedoch heutzutage keine Rechnungen bezahlt werden, auch wenn Vertreter der Duma den Sieg der Kommunisten umgehend begrüssten. Der Westen wird, nach seinem zu späten und zögerlichen Versuch, die Reformkräfte zu stützen, der neuen Führung keine Schonfrist einräumen. Verstaatlichung, Betriebssubventionen und Preiskontrolle à la Voronin gehören nicht zu den Wunschvorstellungen von IMF oder Weltbank. Insgesamt werden aber die Altkommunisten den Zwängen der westlichen Finanzhilfe genauso wenig entgehen können wie die Reformer denen der russischen Energielieferungen. Die Opposition ohne PerspektivenDie «Nostalgiewelle» könnte die Kommunisten mit ihrem Wahlslogan «Kommunisten
an die Macht, Ordnung im Land, Wohlstand in den Familien» ebenso schnell
auch wieder überrollen. So mag der deutliche Sieg Voronin peinlich überrascht
haben, nachdem er im Vorfeld angekündigt hatte, die Regierungsverantwortung
gerne einem nichtkommunistischen Premierminister (Braghis) oder einem
Expertenkabinett zu überlassen. Diese Überlegung ist auch den Geschlagenen
offensichtlich nicht fremd: Braghis hat die KP-Regierung bereits als «Provisorium»
bezeichnet. Oppositionspolitiker bemühten den Vergleich zum Wahlsieg der
kaum reformierten Kommunisten in Bulgarien 1990. Während die Zukunft für die Moldau, bereits jetzt das ärmste Land Europas, wirtschaftlich nichts Gutes verspricht, sind auch in den heiklen Fragen der Staats- und Nationsbildung unter Hammer und Sichel eher Rückschläge zu erwarten. Die Moldau-Republik besteht seit dem kurzen Bürgerkrieg 1992 aus zwei faktisch getrennten Teilen: aus der von Chisinau aus regierten Republik Moldau auf dem rechten Dnjestr-Ufer und der abtrünnigen, mehrheitlich von Russen und Ukrainern bewohnten Dnjestr-Republik (Transnistrien) auf dem linken Ufer. Die Wurzeln des Konfliktes sind ausserordentlich komplex: Es ist keine reine Minderheitenfrage, da die Russen und Ukrainer auf dem rechten Ufer sehr wohl in die moldauischen Gesellschaft integriert sind. Vielleicht noch wichtiger als die Angst vor einer Wiedervereinigung mit Rumänien war die Angst vor der Marktwirtschaft. Seit Stalin konzentriert sich auf dem linken Ufer die Schwer- und Waffenindustrie, die ohne sowjetische Planwirtschaft dem Untergang geweiht ist. Bis Mitte der neunziger Jahre liess sich Moskau die Stationierung der 14. Armee in diesem geostrategisch wichtigen Keil zwischen der Ukraine und dem Balkan einiges kosten und subventionierte das kommunistisch und russisch-national geprägte Regime von Igor Smirnow. Zwischen Rumänien und RusslandSeitdem dauern die von der OSZE begleiteten Verhandlungen über den Abzug
der 14. Armee und den Status der Dnjestr-Republik innerhalb des moldauischen
Staates an – ohne jegliche Aussicht auf Erfolg. Ähnlich wie 1994 und 1998
boykottierte die Dnjestr-Republik die Wahlen auf dem linken Ufer. Heute
gilt die Hauptstadt Tiraspol als Drehscheibe des internationalen Drogen-,
Waffen- und Menschenhandels. Es wird sogar be-hauptet, auch moldauische
Geschäftsleute seien wegen der lukrativen Gewinne am Erhalt dieses
schwarzen Loches in der europäischen Wirtschaftsordnung interessiert.
Angesichts der offenkundigen Beteiligung des Regimes in Tiraspol an diesen
schmutzigen Geschäften ist eine Verhandlungslösung für die Dnjestr-Frage
auch unter Voronin nicht zu erwarten. Gleichzeitig kündigt sich mit den
jüngsten Parlamentswahlen eine gewisse Renaissance der Bewegung für eine
Wiedervereinigung mit Rumänien an. Da die Moldauer ethnisch und sprachlich
Rumänen sind, zweifelte 1989–1991 kaum jemand an der Logik einer
bal-digen Wiedervereinigung: Es wachse zusammen, was zusammengehöre. Die
nationale Volksfront, die auch in der Moldau die Alleinherrschaft der
Kommunistischen Partei abgelöst hatte, sah es nicht anders. Geschickt
geschürte negative Reminiszenzen an die rumänische Herrschaft vor
1940 sowie das Malaise in Rumänien nach 1989 liessen diese Option
alsbald in einem weniger attraktiven Licht erscheinen. Die Idee einer
eigenen moldauischen Nation mit einem eigenen Nationalstaat wurde in kürzester
Zeit zum nationalen Konsens. Die Volksfront wurde politisch marginalisiert,
und mit den ersten freien Wahlen und einem Unabhängigkeitsreferendum
wurde 1994 die Wiedervereinigung mit Rumänien zu Grabe getragen.
Jetzt kehrt die Christlichdemokratische Volkspartei, die Nachfolgerin
der Volksfront, als drittgrösste Partei in das Parlament zurück. Die eigene
Armut oder sogar Rumäniens Hoffnung auf einen EU-Beitritt geben der
Wiedervereinigung neue Attraktivität. Dies führt dazu, dass Hunderte
oder sogar Tausende von Moldauern in den letzten Monaten, unter Umgehung
der neuen Schengener Visabestimmungen, die rumänischen Pässe
bean-tragt und auch erhalten haben, die ihnen gemäss dem rumänischen
Konzept der geteilten Nation zustehen. Voronins angekündigte Umorientierung
nach Russland sowie seine Absicht, Russisch zur zweiten Staatssprache
zu machen, würden die Polarisierung innerhalb der Republik Moldau verstärken
und der Dnjestr-Frage eine neue Brisanz verleihen. |