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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. November 2000

Vergemeinschaftungsfreundlich oder auf Vetopunkte bedacht?

Koordinaten der Integrationsbereitschaft der ostmitteleuropäischen Staaten in einer erweiterten Europäischen Union

Von Martin Brusis


In den letzten Jahren erschien eine Vielzahl von Kalkulationen zu den Kosten der EU-Osterweiterung. Viel weniger weiß man hingegen darüber, was für Mitgliedstaaten die mittel- und osteuropäischen Bewerber nach ihrem Beitritt sein werden - ob sie eine weitere Vergemeinschaftung von Politikbereichen unterstützen, gar anregen oder ob sie Integrationsversuchen entgegentreten und auf ihrer nationalen Eigenständigkeit beharren werden. Auf Bitte der letzten EU-Präsidentschaft äußerten sich die Regierungen der Beitrittsländer zwar zur Reform der EU-Institutionen, die gegenwärtig auf der Regierungskonferenz verhandelt wird. Zum einen fielen diese Stellungnahmen jedoch überaus zurückhaltend und diplomatisch abgewogen aus; zum anderen läßt sich aus den Äußerungen, die im Kontext der laufenden Beitrittsverhandlungen entstanden, nur bedingt auf grundlegende Dispositionen der Europapolitik nach einem EU-Beitritt schließen. Heißt dies nun, daß die Integrationsbereitschaft der zukünftigen neuen Mitgliedstaaten im derzeitigen Dickicht taktisch motivierter, kurzfristig orientierter Gesten nicht einzuschätzen, den Akteuren womöglich selbst noch nicht klar ist und daher nur Spekulationen zuläßt?

Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch, den Boden für Spekulationen soweit zu vermessen, daß zumindest begründete Schlüsse möglich werden. Er beschränkt sich dabei auf die ostmitteleuropäischen Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, von denen einige zweifellos zu den ersten neuen EU-Mitgliedern gehören werden.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, daß die genannten Staaten in der erweiterten EU kleinere (im Falle Polens: mittelgroße) Mitgliedstaaten darstellen werden. Der EU-Rahmen ermöglicht ihnen, ihre Interessen gegenüber den großen Mitgliedstaaten besser zu vertreten, als dies in einem (theoretischen oder historischen) Europa nicht-integrierter Nationalstaaten möglich wäre, in dem die europäischen Großmächte die entscheidenden Fragen untereinander klären würden. Wie die Beispiele Dänemarks einerseits, Belgiens und der Niederlande andererseits zeigen, können kleine Staaten in der EU sowohl auf nationale Eigenständigkeit bedachte, "intergouvernmentalistische", als auch integrationsfreundliche Haltungen vertreten.

Eine intergouvernmentalistische Politik setzt darauf, innerhalb des EU-Rahmens möglichst viele institutionelle Vetopunkte zu erhalten, an denen große Mitgliedstaaten der Zustimmung eines kleinen Mitgliedstaaten bedürfen und mittels derer kleine Staaten die Politik der Großen zumindest negativ beeinflussen können. Das größte Risiko einer solchen Strategie liegt darin, vom Integrationsprozeß abgekoppelt zu werden, sich aber dessen Auswirkungen nicht entziehen zu können - wie man am Beispiel der Währungsunion und der wirtschaftspolitischen Abhängigkeit Dänemarks, Großbritanniens oder der EFTA-Staaten von Euroland beobachten kann. Eine integrationsorientierte Politik versucht demgegenüber, die Machtausübung der großen Mitgliedstaaten in einen supranationalen Rahmen einzufügen, innerhalb dessen auch kleine Mitgliedstaaten an Entscheidungen teilhaben, die die Großen sonst eigenmächtig träfen. Auch diese Strategie ist mit einem wesentlichen Risiko behaftet, nämlich daß die kleinen Mitgliedstaaten in Politikbereichen überstimmt werden, die sie ohne supranationalen Rahmen eigenständig hätten entscheiden können.

Die bisherigen Erfahrungen mit der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in der EU legen die Annahme nahe, daß es sich bei der integrationistischen wie der intergouvernmentalistischen Europapolitik um relativ stabile Grundhaltungen einzelner Staaten handelt, die auch bei einem Regierungswechsel nicht fundamental verändert werden. Es ist zu vermuten, daß diese Grunddispositionen im historisch verwurzelten Staats- und Nationsverständnis der einzelnen Mitgliedstaaten eingebettet und den jeweiligen politischen Eliten weitgehend vorgegeben sind. Lassen sich nun Anhaltspunkte dafür finden, daß die ostmitteleuropäischen Staaten eher für eine intergouvernmentalistische oder eine integrationistische Europapolitik "disponiert" sind, also dem dänischen oder dem Benelux-Beispiel näher stehen? Die Suche nach richtungsweisenden Einflußfaktoren führt zunächst zu den Selbstdefinitionen, die die ostmitteleuropäischen Länder in Bezug auf historische und gegenwärtige Integrationsprozesse ausgebildet haben, dann zum dominierenden Konzept nationaler Identität und schließlich zur politischen Themen- und Akteurskonstellation.

1. Eine häufig genannte Erklärung für die europakritische Disposition Großbritanniens liegt darin, daß die britische Perspektive das eigene Land als Zentrum des Commonwealth und in der Tradition des weltumspannenden britischen Kolonialreiches sieht, Europa dagegen nur als sekundären Integrationsrahmen. Ähnliches gilt für Dänemark und den Primat der skandinavischen Integration. Umgekehrt bilden die europäische Integration und Selbstdefinition in Belgien eine Klammer, die die ethnische Spaltungslinie zwischen Flamen und Wallonen überbrückt und die staatliche Einheit des Landes bewahrt. In geringerem Maße bietet der europäische Integrationsrahmen auch in Spanien oder Italien ein alternatives Identifikationsmoment angesichts ethnischer und regionaler Gegensätze.

Betrachtet man die Integrationserfahrungen Ostmitteleuropas, dann fällt zunächst auf, daß die historische Nationsbildung im Integrationsrahmen des Habsburger Reiches und gegen die Vorherrschaft autoritärer Monarchien in Österreich, Preußen-Deutschland und Rußland erfolgte. Von den fünf ostmitteleuropäischen Nationen gelang es nur Ungarn, innerhalb der Habsburger Monarchie eine Machtteilung zu erreichen und den eigenen Nationalstaat innerhalb dieses Integrationsrahmens zu etablieren. Die polnischen und tschechoslowakischen Nationalbewegungen konnten ihre Nationalstaaten erst nach dem Zerfall der alten Ordnung und gegen die kontinentaleuropäischen Großmächte errichten. Die polnischen und tschechoslowakischen Nationalstaatsgründungen der Zwischenkriegszeit fielen dann erneut den Großmächten Deutschland und Sowjetunion zum Opfer, wobei sich die deutsche Expansion im Unterschied zur Besetzung der Kleinstaaten an Deutschlands westlicher und nördlicher Peripherie gegen den physischen Bestand der tschechoslowakischen und polnischen Nation richtete. Beiden Ländern fehlt die historische Erfahrung einer funktionierenden Integration mit den benachbarten Großmächten, und die erfahrene existenzielle Bedrohung trug zur Entstehung eines Assoziationskontextes bei, in dem nationale Selbstbestimmung gegen die benachbarten Großmächte, nicht aber als Machtbeteiligung bzw. -teilung mit ihnen gedacht und verstanden wird.

Die nationalstaatliche Entwicklung Tschechiens und der Slowakei fand im Integrationsrahmen der tschechoslowakischen Föderation statt, in Bezug auf den sich zueinander asymmetrische slowakische und tschechische Identitätsdefinitionen entwickelten. In dem Maße, wie die Tschechen ihre Identität als staatsbürgerliche, nicht-ethnische Identität verstanden, erschien sie ihnen gleichbedeutend mit der tschechoslowakischen Identität und dem dazugehörigen Staat. Die slowakische Nationalbewegung deutete diese Identitätsdefinition jedoch als ethnische und sah in der Gleichsetzung zwischen tschechischer und tschechoslowakischer Identität den Kern des tschechischen Vorherrschaftsanspruchs im gemeinsamen Staat. Infolgedessen steht das slowakische Nationalstaatsverständnis in starker Polarität zum tschechoslowakischen Integrationsrahmen, was gleichzeitig auch bedeutet, daß - tschechoslowakische wie europäische - Integration in größerem Maße als Gegenmodell zu ethnischem Nationalismus fungiert. Das tschechische Nationalstaatsverständnis ist dagegen viel unabhängiger und insofern auch indifferenter gegenüber dem tschechoslowakischen - wie europäischen - Integrationsrahmen.

Die Slowakei ist der einzige ostmitteleuropäische Staat, der mit den ethnischen Ungarn über eine zahlenmäßig bedeutende, organisationsfähige nationale Minderheit verfügt und damit ähnlich wie Belgien oder Spanien eine Integration nach innen bewältigen muß. Hier besteht also eine Konstellation, in der die EU-Integration eine innerstaatliche Klammerfunktion erhalten und zum konstitutiven Bestandteil der Staatsraison werden kann. Für Ungarn ergibt sich aus der Existenz großer ethnisch ungarischer Minderheiten in den Nachbarländern ein zusätzliches Motiv für eine integrationsfreundliche Haltung, da der EU-Rahmen über die perspektivische Aufhebung der Grenzen und vielfältigen Kooperationsanlässe hinaus Unwägbarkeiten verringert, denen eine bilaterale Zusammenarbeit infolge von Regierungswechseln und -wenden ausgesetzt ist.

Tschechien und die Slowakei teilen mit Polen und Ungarn die Integrationserfahrung des Warschauer Paktes und des Rates für Gemeinsame Wirtschaftshilfe. In allen ostmitteleuropäischen Staaten wurde dieser Integrationsrahmen als Beschneidung der nationalen Souveränität und der wirtschaftlichen Entwicklungspotentiale erlebt; von dieser eindeutig negativen Bewertung hebt sich nur eine Nuance ab, die gewöhnlich von postkommunistischen Politikern eingebracht wird, die auf die wirtschaftlichen Profite ostmitteleuropäischer Unternehmen aus dem Handel mit der ehemaligen Sowjetunion hinweisen und für eine Wiederbelebung des Osthandels eintreten.

Auf dem Hintergrund negativer kommunistischer Integrationserfahrungen und in Sichtweite der EU-Integration vereinbarten die ostmitteleuropäischen Staaten mit der Visegrád-Kooperation und dem Zentraleuropäischen Freihandelsabkommen (CEFTA) nur eine begrenzte, strikt zwischenstaatlich ausgelegte Zusammenarbeit. Der Einfluß dieses Integrationsrahmens für die nationalstaatlichen Grundhaltungen erscheint insgesamt begrenzt, CEFTA-interne agrarpolitische Konflikte dürften bereits vorhandene intergouvernmentalistische Dispositionen höchstens verstärken.

In der Bilanz haben sich die historischen Integrationserfahrungen auf die nationalen Selbstdefinitionen der ostmitteleuropäischen Länder vor allem dadurch ausgewirkt, daß sie intergouvernmentalistische Grundhaltungen erzeugten und verstärkten. Nur Ungarns positive Integrationserfahrung in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie bildet davon eine gewisse Ausnahme. Trotz überwiegend negativer Integrationserfahrungen besteht in der Slowakei ein gewisses, durchaus unsicheres und ambivalentes Potential dafür, daß der europäische Integrationsrahmen zum wichtigen Bindemittel nationalstaatlicher Konsolidierung werden kann.

2. Obwohl die nationalen Selbstdefinitionen, die in der Öffentlichkeit der vier ostmitteleuropäischen Länder dominieren, viele Gemeinsamkeiten aufweisen, lassen sich auch gewichtige Unterschiede erkennen, die man bis in die Zeit der Nationsbildung zurückverfolgen kann. Tschechien unterscheidet sich von den anderen drei Ländern darin, daß der langjährige Ministerpräsident Klaus und seine Bürgerpartei als einzige größere politische Kraft liberal-konservative Ideen mit einem euroskeptischen Profil verbanden und in mehreren Wahlen breite Bevölkerungsgruppen mit diesem Programm für sich gewinnen konnten. In den anderen drei Ländern überwiegen dagegen traditional-konservative Euroskeptizismen, und liberale Parteien wie die polnische Freiheitsunion, der ungarische Bund der Freien Demokraten oder die kleinen slowakischen liberalen Parteien geben sich wesentlich europafreundlicher. Die Stärke des liberal-konservativen Euroskeptizismus in Tschechien läßt sich am besten damit erklären, daß dieser auf ein ökonomisch geprägtes nationales Selbstverständnis abgestimmt ist, in dem wirtschaftlich-technische Leistungsfähigkeit als primäres Nationsmerkmal und nationale Tugend gilt. Der Zusammenhang zwischen liberalem Programm und nationaler ökonomischer Selbstbehauptung wird besonders in der von Klaus propagierten und in Ostmitteleuropa singulären Kupon-Privatisierung sichtbar, die nicht nur das liberale Prinzip chancengleicher Staatsbürger verwirklichte, sondern auch darauf zielte, nationale Eigentümer zu schaffen.

Diese ökonomisch geprägte nationale Identität wurzelt darin, daß die tschechische Nationalbewegung sich mit dem ökonomischen Entwicklungsvorsprung verband, den die böhmischen Länder gegenüber den übrigen Teilen der Habsburger Monarchie besaßen. Industrialisierung und Urbanisierung erschienen hier als Bewegkräfte und Begleiter der Nationalstaatsbildung, während die anderen ostmitteleuropäischen Nationalbewegungen aus einer Position ökonomischer Rückständigkeit heraus ein stärker historisch-kulturelles Nationsverständnis ausbildeten, das Stadt und Industrie als Fremdkörper und Gefährdungen einstufte. Gegenüber der ökonomischen Stärke stellten die eigene Kultur, Sprache, Herkunft und Religion ungleich wichtigere Nationsmerkmale oder Identitätsmomente dar. Vor dem Hintergrund eines historisch-kulturell geprägten nationalen Selbstverständnisses erhalten die "Rückkehr nach Europa" oder die "Aufhebung der Teilung von Jalta" - Begründungen, die ostmitteleuropäische Politiker häufig zur Erklärung ihres EU-Beitrittswunsches anführten und die angesichts des ernüchternden EU-Alltags übermäßig emphatisch klangen - eine tiefere Bedeutung als vermittelnde, kulturell-historische Definitionen des EU-Systems.

Das Verhältnis zwischen dem in Ostmitteleuropa überwiegenden, kulturell-historisch geprägten Nationsverständnis und dem europäischem Integrationsprozeß bleibt allerdings ambivalent: Einerseits ist eine in Wertvorstellungen verankerte Bindung vorstellbar, die den nationalen politischen Eliten eine integrationsfreundliche Politik ermöglichen würde. Andererseits bieten sich Ansatzpunkte für einen gegen die EU gerichteten Nationalismus, der die nationale Eigenständigkeit durch die Marktintegration, die dadurch ausgelösten sozialen Umwälzungen, die Unterwerfung unter Brüsseler Entscheidungen und die westliche Konsumgesellschaft bedroht sieht. Derartige Bedrohungsperzeptionen werden gegenwärtig unter anderem durch den national-katholischen Flügel der polnischen Wähleraktion Solidarnosc (AWS) oder die ungarische Partei der Unabhängigen Kleinlandwirte artikuliert und mobilisiert. Die AWS hat mit ihrer Formel "Europa der Nationen" eine Plattform vorgegeben, von der aus die Nation gegen Brüsseler Anmaßungen verteidigt, aber auch zu einer gaullistischen Europapolitik aufgebrochen werden kann. Einen interessanten Grenzfall zum liberal-konservativen Euroskeptizismus stellt die in Ungarn regierende Allianz der Jungen Demokraten - Ungarische Bürgerpartei dar, die gegenüber der Vorgängerregierung Ungarns nationale Interessen in Europa stärker akzentuiert, ohne aber im gleichen Maße wie die tschechische Bürgerpartei auf ein ökonomisches Nationsverständnis zurückgreifen zu können.

Ein primär ökonomisch geprägtes Nationsverständnis, wie es der Rhetorik eines Václav Klaus zugrundeliegt, unterstützt eine stärker von Nutzenkalkülen bestimmte, intergouvernmentalistische Haltung. Dieser entspricht das Konzept einer EU als erweiterter Freihandelszone, die materielle Handelsvorteile erzeugt, welche allen Mitgliedern, vor allem aber den wirtschaftlich leistungsfähigeren Mitgliedstaaten (und damit perspektivisch auch Tschechien, zumindest in der vorherrschenden Selbstdefinition) zugute kommen. Die Affinität zwischen diesem intergouvernmentalistischen Integrationsmodell und dem ökonomischen Nationskonzept liefert der Klaus-Partei Argumentationsvorteile. Bisher ist es den tschechischen Sozialdemokraten, die seit 1998 ohne Parlamentsmehrheit regieren, nicht gelungen, ihre integrationsoffenere Politik mit der gleichen Überzeugungskraft im national-ökonomischen Interesse zu verorten. So wäre ein Argumentationsmuster vorstellbar, das ausgehend von der Erhaltung und Stärkung der tschechischen Wettbewerbsfähigkeit den Nutzen einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik hervorheben und damit die Akzeptanz für eine integrationsfreundlichere Haltung vergrößern könnte.

Die uneinheitlichen Traditionsbestände Ostmitteleuropas, aus denen sich die in der Öffentlichkeit dominierenden Nationskonzepte zusammensetzen und die zur Definition "nationaler" Interessen verwandt werden, legen zwei Schlüsse nahe: Erstens, je mehr die EU-Mitgliedstaaten die Osterweiterung und die EU selbst als historisch und kulturell bedeutungsvolles Projekt auffassen, desto mehr Aussicht haben symbolisch-politische Transfers zwischen dem ostmitteleuropäischen Nationsverständnis und einer integrationsfreundlichen europapolitischen Grundhaltung. Zweitens, es ist wichtig, sich von einer monolithischen Wahrnehmung der Nation zu befreien und die Passungen zwischen Akteur- und Themenkonstellationen in den einzelnen ostmitteleuropäischen Ländern genauer zu untersuchen.

3. Wenn man vom slowakischen Parteiensystem absieht, scheinen sich alle ostmitteleuropäischen Parteiensysteme auf eine Links-Rechts-Polarität hin zu bewegen. Während dies mit der Konfrontation zwischen den aus der Solidarnosc hervorgegangenen Parteien und den Postkommunisten in Polen bereits frühzeitig vorgezeichnet war, dürften die geplante Stärkung von Elementen des Mehrheitswahlrechts in Tschechien und die zunehmend konfrontative politische Auseinandersetzung in Ungarn die in den Wahlergebnissen erkennbare Tendenz zu einem bipolaren Parteiensystem weiter verstärken. Im Vergleich dazu befindet sich die slowakische politische Landschaft nach wie vor im Fluß, vor allem da die größte slowakische Partei, die vom ehemaligen Ministerpräsident Meciar dominierte Bewegung für eine demokratische Slowakei, links- und rechtspopulistische Positionen vermischt und sich keinem der beiden ideologischen Pole klar zuordnen läßt.

In der regionsweit dominierenden bipolaren Grundkonstellation stimmen zwar alle größeren linken und rechten Parteien im Ziel des EU-Beitritts überein, euroskeptische Haltungen waren jedoch bisher - in ihrer liberal- und traditionalkonservativen Ausprägung - überwiegend am rechten Pol des Parteiensystems zu beobachten. Die linken Parteien haben (mit Ausnahme der tschechischen Kommunisten) eher integrationsfreundliche Haltungen eingenommen, was Ausdruck ihrer thematischen Fixierung ist: Im nationalen Diskurs, d.h. in der öffentlichen Selbstverständigung über nationale Identität und nationale Prioritäten können sie wenig beitragen bzw. müssen aufgrund ihrer leicht zuschreibbaren Verstrickung in die kommunistische Vergangenheit besondere Rechtfertigungslasten tragen. Sie sind programmatisch weitgehend auf Themen des ökonomischen Fortschrittes und der ökonomischen Vernunft festgelegt - Themen, die eine Befürwortung der EU-Osterweiterung schon aufgrund ihrer erwartbaren Wohlstandsgewinne und wirtschaftlichen Modernisierungsschübe nahelegen. Traditionalistische, gewerkschaftsnahe Parteiflügel haben die Kritik an den sozialen Kosten der Transformation und Marktöffnung bisher nicht mit einer Ablehnung der Osterweiterung verknüpft.

In der linken Sichtweise erscheint die EU damit primär als ökonomisches Projekt, während die rechte Sichtweise ihre kulturelle, historische und politische Dimension stärker gewichtet. Für die Unterstützung der europäischen Integration durch die zukünftigen ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten bedeutet dies, daß die mit dem Binnenmarkt und der Währungsunion ökonomisch begründete, aber darüber hinausreichende Integrationsdynamik eher einer linken Sichtweise entspricht. Eine politische und wirtschaftliche Integrationsdynamik, die von der friedenssichernden Funktion der EU oder einer europäischen Wertegemeinschaft ausgeht, korrespondiert dagegen eher einem rechten Deutungs- und Argumentationsmuster.

Insgesamt ergeben die hier vermessenen Koordinaten der Integrationsbereitschaft - Integrationserfahrungen, nationale Identitätskonzepte, Akteur- und Themenkonstellationen - ein differenziertes Bild, das mehr Anreize und Antriebe zu einer intergouvernmentalistischen Europapolitik nach dänisch-britischem Muster enthält. Ungarn erscheint darin als das potentiell integrationsfreundlichste Land, vor allem aufgrund seiner Geschichte und der ethnisch ungarischen Minderheiten. Die Slowakische Republik ließe sich aufgrund des ungefestigten nationalstaatlichen Selbstverständnisses als potentiell besonders integrationsbedürftig einstufen; ob sich jedoch die politischen Akteure durchsetzen werden, die die europäische Integration als Klammer und Fixpunkt der nationalen Identität benutzen wollen, ist noch nicht abzusehen.

In Polen besteht bei den politischen Eliten des Solidarnosc-Lagers ein Potential an europäischem Enthusiasmus, und zwar trotz der bzw. unabhängig von den Meinungsumfragen, die einen dramatisch Fall der EU-Zustimmung verzeichnen. Die geschichtlich bedingte Kehrseite sind nationale Souveränitätsängste, die ein Teil der polnischen Rechten gegen die EU zu wenden sucht und die eine skeptisch-ablehnende Haltung vor allem gegenüber einer vertieften europäischen Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik vorzeichnen. Tschechiens Integrationsbereitschaft wird sich im Spannungsfeld zwischen Nützlichkeitskalkülen einerseits, ökonomischer Selbstbehauptung andererseits bewegen. Diese Orientierungspunkte machen starre nationale Prinzipiensetzungen eher unwahrscheinlich, lassen aber zugleich auch eine nüchtern-interessengeleitete Haltung gegenüber neuen Integrationsprojekten erwarten.

Wenn die ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten in einer erweiterten EU tatsächlich so wenig integrationsbereit sein sollten, wie die beschriebenen politisch-kulturellen Koordinaten suggerieren, sollten die jetzigen EU-Mitgliedstaaten dann nicht die anstehenden Integrationsvorhaben möglichst noch vor der Osterweiterung abschließen, auch auf Kosten einer zeitlichen Verzögerung der ersten Beitritte? Eine solche Schlußfolgerung mag aus taktischen Gründen berechtigt sein - allerdings ebenso wie die umgekehrte Taktik, durch ein konkretes, zeitlich nahes Erweiterungsziel die EU-Mitgliedstaaten so unter Handlungsdruck zu setzen, daß sie die seit langem diskutierten Reformen endlich bewältigen. Perspektivreicher wäre eine volle Einbeziehung der zukünftigen EU-Mitglieder in die laufende Diskussion über die Zukunft Europas, denn dies würde ihren Politikern ermöglichen, die vorhandenen Spielräume für eine integrationsfreundliche Haltung zu nutzen und langfristig zu erweitern.


   
           
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