|
|
 |
Das Parlament vom 15. Oktober 1999
Hypnotisiert wie das Kaninchen vor der Schlange? Die Menschen in der
digitalen Gesellschaft
Von Jürgen Turek
Wenige Monate vor der - eigentlich falschen - Jahrtausendwende nimmt
die Beschäftigung mit unserer zukünftigen Gesellschaftswelt zu. Kaum
eine Zeitung, die den Einstieg in das neue Millennium nicht mit einer
eigens eingerichteten Serie zu begleiten sucht, kaum ein Verlag, der den
Jahrtausendwechsel nicht mit mindestens der einen oder anderen Publikation
zum wichtigen Thema erhebt. In der Flut von Büchern und Artikeln zur Zukunft
fällt es schwer, die wesentlichen Grundlinien der zukünftigen gesellschaftlichen
Ent-wicklung zu identifizieren, Chancen und Risiken auszumachen und Orientierung
darüber zu erhalten, was unser Leben in den kommenden Jahrzehnten prägen
wird. Düstere Endzeit-Prophezeiungen kontrastieren mit enthusiastischen
Zukunftsszenarien, in denen vor allem neue Technologien zum Glück der
Menschen entscheidend beitragen werden. Wer blickt da noch durch? Das
elektronisch vernetzte Haus soll den Komfort für den Menschen ins unermeßliche
steigern, die moderne Biomedizin seine Lebenserwartung, seine Gesundheit
und die Qualität seiner Ernährung signifikant erhöhen; verkehrselektronische
Systeme sollen den Kollaps unserer Infrastruktur vermeiden und eine optimale
Navigation des Einzelnen durch die komplexen Fahrrinnen des anschwellenden
Individualverkehrs ermöglichen. Technologie allüberall. Besonders die
informationstechnologische Revolution gilt für viele als Grundbaustein
einer völlig neuen Gesellschaftswelt. Das Heraufziehen der digitalen Gesellschaft
aber wird auch von zahlreichen Ängsten begleitet. Hier unwirkliche Gefahren
von den wirklichen Risiken zu unterscheiden fällt schwer.
Der spanische Publizist Juan Luis Cebrián stellt sich mit seinem Bericht
an den Club of Rome in Sachen Informationsgesellschaft dieser Aufgabe.
Nach ihm kann es nicht darum gehen, gegen die informationstechnologische
Revolution anzugehen, sondern nur darum, so selbstverständlich wie
möglich mit ihr umzugehen. Dazu gehört eine Analyse, wo Herausforderungen
und Chancen liegen und wie sie verteilt sind. Im Kern geht es hierbei
um das Problem, ob eine Kluft zwischen informierten Eliten und dem uninformierten
gemeinen Volk entsteht, schließlich ein Konflikt, der mancherorts zu einer
neuen sozialen Frage im Verhältniss einer wissenden, technologisch
versierten, mächtigen und reichen Klasse zu einem neuen informationstechnologischen
Lumpenproletariat stilisiert wird. Die neuen Informationstechnologien,
so Ricardo Díez Hochleitner, der Präsident des Club of Rome, in seinem
Geleitwort zu der Publikation, werden die Menschen zwingen, sich den neuen
Beziehungen in Zeit und Raum anzupassen.
Es spricht für die Sorgfalt des Club of Rome, den Amerikaner Don Tapscott,
Präsident der Alliance for Converging Technologies, gebeten zu haben,
ein kritisches Vorwort zu verfassen, mit dem er die Thesen Cebrián's kritisch
kommentiert. Denn vergleicht man die Debatten über das Informationszeitalter
in Europa und in den USA, so läßt sich eine Asymmetrie der Philosophien
über die multimediale Virtualität im Gegensatz zur physischen, rechtlich
und politisch besser organisierbaren Anfaßwelt feststellen: Hier zuweilen
überängstlich und zu kritisch, dort manchmal zu euphorisch und etwas
naiv. Die Zusammenführung einer europäischen und einer amerikanischen
Position kann somit nur als besonders aufschlußreich bezeichnet werden,
die dem Leser ein Höchstmaß an differenzierter Auseinandersetzung auf
hohem Niveau beschert. Für Cebrián selbst ist es ein ganz persönliches
Anliegen, nicht ein besonders originelles, sondern vielmehr ein ehrliches
Buch geschrieben zu haben, das sich vor allem der Frage stellt: "Sind
wir dank der avancierten Technologien humaner geworden?" (S.47). Ohne
Zweifel ist dies im Kontext der menschlichen Zivilisationgeschichte ein
Problem, dass in den technisch gewendeten Diskussionen um unsere Zukunftsgesellschaft
viel zu häufig unterbelichtet wird und sich eher in der utopischen
Literatur von Schriftstellern wie Frank Herbert, Aldous Huxley oder Herbert
W. Franke niedergeschlagen hat.
Auftakt zu Cebrián's humanistischer Betrachtung des Cyberspace ist ein
Blick in die Geschichte der informtionstechnologischen Revolution, deren
Initialzündung er im wesentlichen in den 90er Jahre des 20. Jahrhunderts
verortet, wo Satelitenkommunikation, Mobilfunk und Internet, besonders
jedoch ihr Zusammenwachsen, eine neue Qualität der Kommunikation
im Rahmen der multimedialen Welt zunächst technologisch überhaupt
erst ermöglicht hat. Cebrián zeichnet die rasante Geschwindigkeit bei
dem Aufbau des Netzes der Netze nicht nur nach, sondern rechnet die Entwicklung
konsequent hoch. Er beschreibt, wie die Entwicklung der multimedialen
Welt seit den 50er Jahren verlief, wie Radio, Fernsehen, Telefon, die
Kommunikationsgewohnheiten der Menschen immer stärker beeinflußt
und verändert haben, wie schließlich die Auswirkungen von Faxgerät,
Kommunikationssatelliten und Internet zwangsläufig auch in einem
gesellschaftlich notwendig gewordenen Konzept des Denkens einer neuen
Gesellschaft, der Informationsgesellschaft mündeten. Er bedient sich,
ganz in Anlehnung an Joel de Rosnay's Betrachtung des "Homo Symbioticus",
eines Zitats des amerikanischen Schriftstellers Douglas Coupland, um das
Ausmaß der zukünftigen Entwicklung darzustellen: "Man kann die Erfindung
des Rades, des Radios oder eben des Computers nicht rückgängig machen.
Wenn wir schon lange tot sind, werden Computer immer noch weiterentwickelt
werden, und früher oder später - das ist keine Frage des Ob, sondern
des Wann - wird ein ‚Etwas' geschaffen, das eine eigene Intelligenz hat....
Das Etwas läßt sich nicht mehr aufhalten. Es wird geschehen. Man
kann es nicht rückgängig machen" (S.68). So bleibt für Cebrián das
Problem, wie die Menschheit einen angemessenen Umgang mit ihren Entdeckungen,
mit dem Zusammenwachsen ihrer Zivilisation, mit dem neuen ‚Superorganismus'
ihrer Gesellschaft, erreichen wird. Hierbei bilden für ihn die sozialen,
politischen und die ökonomischen Konsequenzen der Internet-Gesellschaft
sowie die Folgen für Erziehung und Bildung die Herausforderungen für eine
andere Gesellschaft der Zukunft.
Die möglichen Perversionen des Internet, Surf-Sucht von Internet-Junkies,
Vereinzelung, totale Isolation, extremistischer oder sexueller Mißbrauch
von Netzinhalten, Manipulation, die Möglichkeiten politischer Demagogie,
finanziell kostspielige Verführungen, Bauernfängerei, all dies führt
ihn natürlich und selbstverständlich zu der Frage, wer in dieser
‚schönen neuen Welt' eigentlich das Sagen hat, und wie das Sagen funktioniert.
Wer hat die Macht, die Telekommunikationsindustrie, die Software-Klempner
des Bill Gate oder der regulierende Staat? Er votiert, ganz Europäer,
für die etatistische Option: "Es bleibt weiterhin die vorrangige Aufgabe
der öffentlichen Behörden, darüber zu wachen, daß der Konzentrationsprozeß
(im Internet) nicht zu Mißbrauch führt, und dabei Gesetze zu erlassen,
welche die privaten und verfassungsmäßigen Rechte seiner Bürger auch
im Cyberspace schützen. Die Wahrung dieser Rechte sowie der Kampf gegen
jegliche Art von Netzkriminalität erfordern Vereinbarungen und machen
internationale Gebilde ganz neuer Prägung nötig" (S.142).
Auch für den ökonomischen Bereich sieht Cebrián erheblichen Handlungsbedarf.
Die virtuelle Ökonomie tangiere insbesondere zwei Basismechanismen, die
ein Funktionieren des Systems überhaupt erst ermöglichen: Markt und Hierarchie.
Beides, und dies weist er detailliert nach, würden durch die neue Wirtschaft
erheblich verändert. Nicht nur, dass die im Industriezeitalter gewachsenen,
etablierten und bewährten Über- und Unterordnungsstrukturen zunehmend
erodierten; auch der gesamte Markt von Angebot und Nachfrage, und schließlich
das Lebensarbeitsverhältnis selbst - unbefristet, sozial abgesichert,
berechenbar - geraten durch die informationstechnologische Revolution
zunehmend aus den Fugen, mit allen Konsequenzen für das etablierte Geflecht
von individuellem Arbeitsvertrag, sozialem Status, Sicherheit langfristiger,
individueller Investionsverpflichtungen, - man denke nur an die Abzahlung
des eigenen Hauses - oder gewerkschaftlicher Arbeitnehmervertretung, Mitbestimmung
und industrieller Interessenwahrnehmung, ein Gespinst, was die sozialen
Konflikte zwischen Kapital und Arbeit in den vergangenen zweihundert Jahren
sukzessive gezähmt hat. Dies macht den Vorgang so dramatisch.
Dies hat schließlich und endlich auch gravierende Auswirkungen auf die
Bereiche von Erziehung und Bildung einer neuen Generation, die sich zurechtzufinden
hat. Das virtuelle Klassenzimmer, die Internet-Universität, die Chancen
für die individuelle Selbstentfaltung sind enorm. Doch gleichzeitig könnten
das immerwährende Lernen - eine modische und in ihren Konsequenzen
oftmals wenig bedachte politische Floskel unserer Zeit - Menschen überfordern,
könnten die erforderlichen Anpassungsleistungen an eine neue Kultur des
Cyberspace lokale, identitätsstiftende Eigenheiten gefährden,
Normen herausfordern und gesellschaftlichen Widerspruch und Konflikte
als Abwehrreflexe auf die Universalität der globalen Netze provozieren.
Was also folgt daraus für die Politik der Informationsgesellschaft? Damit
die Menschen nicht hypnotisiert vor den sozio-ökonomischen Umwälzungen
hocken wie das Kaninchen vor der Schlange, fordert Cebrián, nicht die
Vielfalt auf eine Einheit zu reduzieren, sondern Konvergenz in der Vielfalt
zu erreichen. Die digitale Gesellschaft könnte ein ausgezeichnetes Instrument
darstellen, um die Gleichheit aller zu verwirklichen, ohne deshalb auf
Pluralismus zu verzichten. Nur durch den Einsatz gewaltiger Summen von
Geld könne man verhindern, dass die digitale Informationsgesellschaft
die Gräben zwischen Kulturen und Systemen noch vertieft. "Und wir
müssen dieses Geld ... beharrlich in die Bürger investieren, nicht nur,
damit sie mit den neuen Technologien umzugehen lernen, sondern auch damit
sie begreifen, welche Folgen diese Technologien haben werden" (S.229).
Die Folgen moderner Kommunikationstechnologien auf das gesellschaftliche
Umfeld sind seit jeher auch das Thema des amerikanischen Medienökologen
Neil Postman, der sich mit seiner neuesten Publikation "Die zweite Aufklärung.
Vom 18. In das 21. Jahrhundert" in die Debatte um die gesellschaftliche
Zukunft energisch einschaltet. Ihm geht es insbesondere um geistige Orientierung:
"Die Frage - Wohin sollen wir uns um Wegweisung wenden, was wir im 21.
Jahrhundert tun und denken sollen, insbesondere hinsichtlich unseres Verhältnisses
zur Technik - ist ebenso bedeutungsvoll wie schwierig ... Jede Zivilisation
schrieb Lewis Mumford einmal, lebt in ihrem Traum. Oftmals aber verlieren
wir unseren Traum, und das ist uns, wie ich glaube, im 20. Jahrhundert
geschehen" (S.25). Zu Recht verweist Postmann damit auf eine weitverbreitete
Orientierungslosigkeit und auf das Fehlen von gemeinsamen, wegweisenden
Visionen, die uns Gewissheiten verschaffen, welche uns sicher über die
Schwelle zum neuen Jahrhundert tragen könnten. So schlägt er vor,
dass wir unsere Aufmerksamkeit dem 18. Jahrhundert zuwenden, da wir dort
genau die Ideen wiederfinden, die der Zukunft eine humane Richtung offerieren.
Nicht die Institutionen sollen hierbei kopiert, sondern lediglich Belehrungen
angenommen werden, die uns das Jahrhundert von Paine, Goethe, Voltaire,
Rousseau, Diderot, Kant, Gibbon oder Pestallozzi hinterlassen hat. Im
18. Jahrhundert seien unsere Vorstellungen von induktiver Wissenschaft,
religiöser und politischer Freiheit, Volksbildung, von rationalem Handeln,
die Idee vom Fortschritt, vom Nationalstaat und vom Glück entwickelt worden,
kurzum, allesamt Konzepte, die das Leben der Menschen im Prinzip neu geordnet,
erleichtert, befreit und entlastet haben. Menschliches Verhalten im Zeitalter
der Aufklärung, also politische Auflehnung gegen obrigkeitsstaatliche
Gängelung, rationales Betrachten gesellschaftlicher und wissenschaftlicher
Sachverhalte, das Infragestellen gesellschaftlicher Autorität, Fortschrittsdenken,
alles dies avanciert für Postman metaphorisch zu einer rohen Blaupause
konstruktiven Zukunftshandelns, wenn man die Irrungen und Wirrungen der
Aufklärung vermeidet. Im Zentrum seiner Reflexion stehen Fortschritt,
Technologie, Sprache, Information, Erzählungen, Kinder, Demokratie
und Erziehung.
Mit einem spöttischen Seitenhieb auf den amerikanischen Papst der digitalen
Gesellschaft, Nicolas Negroponte, ist für Postman ein gelassener Gebrauch
der Vernunft gegenüber dem Furor technologischer Innovation unabdingbar,
wobei seine ihm eigene, starke Skepsis gegenüber dem Segen einer multimedial
geprägten Welt unübersehbar bleibt. In einer Welt der oberflächlichen
Symbole, bedenklichen sprachlichen Plattheiten und eines Verfalls der
Pflege sprachlicher Fertigkeiten mahnt er an, einen luziden Gebrauch der
Sprache zu üben, um die Fähigkeit zur präzisen Beschreibung
und Erklärung der Realität gegenüber einem verunklarenden und
verluderten Kauderwelsch der postmodernen Gesellschaft zu erhalten. Wichtig
ist für ihn hierbei, dass Information nicht gleichbedeutend ist mit Wissen,
und dass die Medien sich dem Auftrag stärker widmen, Information,
gewissermassen als Anwalt der Öffentlichkeit im Informationszeitalter,
in organisierte Information zu wandeln, "die einen Zweck hat und die einen
dazu bringt, sich weitere Informationen zu beschaffen, um etwas zu verstehen"
(S.118). Wichtiger aber noch ist ihm eine ‚Erzählung' im Sinne einer
Vision jenseits kühler, rationaler Notwendigkeiten, die, natürlich, vor
allem Identität ver-mittelt. Postman erklärt: "Ich denke an
große Erzählungen - Erzählungen, die tief und komplex genug
sind, um Erklärungen hinsichtlich der Herkunft und der Zukunft eines
Volkes zu bieten; Erzählungen, die Ideale aufstellen, Verhaltensregeln
vorgeben, die Quellen von Autorität benennen und durch all dies eine
Dimension von Kontinuität und Sinnhaftigkeit erzeugen" (S.127). Denn
die Menschen seien auf ihrem Weg in eine postmoderne Welt ohne eine Erzählung,
die ihnen Mut und Optimismus geben kann, wie es der tschechische Intellektuelle
Vaclav Havel auf den Punkt gebracht hat. Nach diesem Aspekt widmet er
sich den Aufgaben, die unsere Gesellschaft in Zukunft zu übernehmen hat:
die Zukunft unserer Kinder, die Erziehung und die Demokratie. Auf den
Punkt gebracht: Er verlangt, daß die Phase der Kindheit, im Sinne Mark
Twains, der Exploration und der authentischen, kindlichen Entwicklung
vorbehalten bleiben muss, die nicht durch eine massenmediale Manipulation
verhindert wird, die Kinder durch vorgestanzte Informationsinhalte zu
sehr und zu direkt an die Welt der Erwachsenen, die diese Welten konzipieren,
heranführen. Die Demokratie in der technologisch geprägten Welt vermag
auch Postman nicht zu kalkulieren. Dies bleibt für ihn als Aufgabe übrig.
Aber er wünscht sich ein ernsthaftes Gespräch über das Verhältnis
zwischen den neuen Medien und unserer "alten Demokratie" - sei es auch
nur im Fernse-hen!
Juan Luis Cebrián: Im Netz - Die hypnotisierte Gesellschaft. Der neue
Bericht an den Club of Rome. Mit einem Vorwort von Don Tapscott und einem
Geleitwort von Ricardo Díez Hochleitner, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart
1999, 236 S.
Neil Postman, Vom 18. Ins 21. Jahrhundert. Die zweite Aufklärung,
Berlin Verlag, Berlin 1999, 253 S.
|
|
|