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Süddeutsche
Zeitung vom 10.08.1998
Eine Studie praktischer Regierungslehre
Karl-Rudolf Kortes eindrucksvolle Analyse Kohlscher Deutschlandpolitik
bis einschließlich 1989
Von Ulrich Mahlert
Kein politischer Beobachter vermochte im Sommer und Herbst 1989 die
Tragweite der Ereignisse in der DDR zu überschauen. "Wir saßen
wie Kinder vor dem Weihnachtsbaum und haben uns die Augen gerieben."
So kommentierte Wolfgang Schäuble sieben Jahre später die Reaktion
der Bundesregierung auf den Zusammenbruch des SED-Regimes.
Zu Beginn des Jahrzehnts war eine solche Entwicklung unvorstellbar.
Damals standen sich Ost und West in neuer Feindseligkeit gegenüber.
Nach dem Wahlsieg der Konservativen in Großbritannien (1979) und
in den USA (1980) proklamierten Ronald Reagan und Margaret Thatcher dem
Ostblock gegenüber eine Politik der Härte. Die Stationierung
sowjetischer Mittelstreckenraketen und der NATO-Doppelbeschluß schürten
die Angst vor einem Atomkrieg. Die Amerikaner planten den Krieg im Weltraum.
Militärstrategen debattierten, ob ein atomarer Schlagabtausch nicht
doch "gewinnbar" wäre. In Afghanistan kämpften sowjetische
Interventionstruppen gegen islamische Aufständische. Die polnische
Staatspartei bekämpfte die Gewerkschaftsbewegung "Solidarität"
mit dem Kriegsrecht.
An der Nahtstelle der Machtblöcke, im geteilten Deutschland, herrschte
Unsicherheit. Würde die Neuauflage des Kalten Krieges die innerdeutschen
Beziehungen belasten? Dementsprechend große Aufmerksamkeit genossen
alle Verlautbarungen der 1982 durch ein konstruktives Mißtrauensvotum
gewählten Regierung Helmut Kohl. Schließlich hatten CDU und
CSU die Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition in den siebziger
Jahren erbittert bekämpft. Kohls erster Bericht zur Lage der Nation
im Sommer 1983 schaffte Klarheit.
Der Bundeskanzler steckte drei Eckpunkte seiner Deutschlandpolitik ab,
die bis zum Ende des Jahrzehnts Gültigkeit besaßen: Er hob
den normativen Abstand zum SED-Regime hervor, stellte die Freiheit und
die Verwirklichung der Menschenrechte im Westen der Unfreiheit und der
Rechtlosigkeit im Osten gegenüber. Weniger eindeutig waren seine
Ausführungen zur deutschen Frage, die er in den Kontext der europäischen
Integration stellte. Welcher Einigungsprozeß Priorität haben
sollte, blieb im Nebel. Ein hoher Mitarbeiter des Innerdeutschen Ministeriums
monierte: "Was heißt hier Europa und Europäisierung der
Deutschlandfrage. Ein Schwamm, in den man alles aufsaugen, aus dem (man)
schnell alles wieder herausdrücken kann. Was ist, wo liegt Europa?"
Während der erste Punkt des Lageberichts dem damaligen Zeitgeist
entgegenlief, der übrigens über alle Parteigrenzen hinweg einer
weiterreichenden Anerkennung der DDR das Wort sprach, stieß die
"Europäisierung" der deutschen Frage allenfalls in den
Reihen der Konservativen auf Vorbehalte. Unmittelbare Relevanz hatte Kohls
Feststellung, daß eine "praktische Deutschlandpolitik (. .
.) nur als Politik des Dialogs, des Ausgleichs und der Zusammenarbeit
erfolgreich sein" könne. Ziel sei es, die Teilung "erträglicher"
zu machen. Auf der westdeutschen Agenda der innerdeutschen Verhandlungen
standen die Senkung des Mindestumtausches, der Ausbau des Reise-, Besucher-
und Transitverkehrs, Umweltschutz, die Zusammenarbeit auf den Feldern
Kultur, Bildung, Wissenschaft, Technik und Sport, Rechtshilfeverhandlungen
und der innerdeutsche Handel. Kohl betonte, einseitige Vorleistungen der
Bundesrepublik seien nicht zu erwarten, und forderte eine Politik des
"Gebens und Nehmens". Deutschlandpolitisch stellte der Regierungswechsel
1982 also keine Zäsur dar.
Die Macht des Status quo
Die Sogkraft des Status quo wurde bereits im Sommer 1983 deutlich. Damals
sorgte die Nachricht des von Franz Josef Strauß eingefädelten
Milliardenkredits für die DDR in der Bundesrepublik für Aufregung.
Entgegen den Ankündigungen des Bundeskanzlers erhielt die DDR erstmals
ein von Bonn genehmigtes Bankendarlehen, das nicht an Vorbedingungen oder
an einen Verwendungszweck gebunden war. Ausgerechnet einer der schärfsten
Kritiker der Ostpolitik war der Initiator. Aus der Opposition heraus hatte
die CDU einst die Kreditvergabe der sozialliberalen Koalition mit "Kasse
gegen Hoffnung" gegeißelt und bemängelt, es werde zuviel
für zuwenig gegeben.
Nach dem Milliardenkredit war es nun an den Christdemokraten, auf Gegenleistung
des SED-Regimes zu hoffen. Angesichts der desolaten wirtschaftlichen Situation
hatte man dort die Zeichen der Zeit erkannt. Im Herbst 1983 signalisierte
Honecker bei einem Spitzengespräch, der Mindestumtausch für
Kinder und Jugendliche unter 14 Jahre werde aufgegeben und ein Teil der
Selbstschußanlagen an der Grenze demontiert. Die Familienzusammenführung
wurde liberaler gehandhabt. Die Zahl der Besuchsreisen in beide Richtungen
stieg. Schließlich war Ostberlin mehr denn je von westdeutschem
Geld abhängig, der mit einem zweiten Milliardenkredit 1984 auch weitersprudelte.
Tatsächlich erfuhren die zwischenstaatlichen Kontakte in den achtziger
Jahren einen beachtlichen Aufschwung. Honecker und seine SED wurden zu
umworbenen Gesprächspartnern. Jede westdeutsche Partei pflegte eifersüchtig
"ihren Draht" zum kleineren Nachbarn. Aus der "Koalition
der Vernunft" so hatte Bundestagspräsident Philipp Jenninger
diese Kontakte 1984 charakterisiert, entwickelte sich eine De-facto-Anerkennung
des SED-Regimes, auf die Ostberlin so erpicht war. Der auf Intervention
Moskaus mehrfach verschobene Besuch Erich Honeckers in Bonn im September
1987 "und die durchgesetzte politische und protokollarische Behandlung
des Genossen Erich Honecker als Staatsoberhaupt eines anderen souveränen
Staates dokumentierten vor aller Welt Unabhängigkeit und Gleichberechtigung
beider deutscher Staaten, unterstrichen ihre Souveränität und
den völkerrechtlichen Charakter ihrer Beziehung", wie es zutreffend
im internen Besuchsbericht für das SED-Politbüro hieß.
Letztlich war die Deutschlandpolitik für die Regierung Kohl jedoch
stets nachrangig gewesen. Daran änderte auch der Machtantritt Michail
Gorbatschows 1985 nichts.
"Selbst die Krisendiplomatie des Jahres 1989 fokussierte die Ausreisewelle
(aus der DDR) als ein innenpolitisches Thema Westdeutschlands. Noch immer
ging es um Reparaturarbeiten an der ansonsten akzeptierten Zweistaatlichkkeit.
Der Balanceakt zwischen Offenhalten der deutschen Frage bei gleichzeitiger
Interessenverflechtung mit der DDR wurde noch fortgesetzt. Bis in den
November 1989 hinein galt unverändert eine Art Stillhalteabkommen
mit der DDR." Zu diesem Ergebnis kommt Karl Rudolf Korte, Chronist
der Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft.
Der Münchener Politikwissenschaftler hat eine aufsehenerregende
Studie über den Regierungsstil und die deutschlandpolitischen Entscheidungen
der Bundesregierung in den Jahren 1982 bis 1989 vorgelegt, für die
er auf eine außergewöhnliche Quellengrundlage zurückgreifen
konnte. Korte hatte nicht nur die Möglichkeit, fünfunddreißig
Akteure der Bonner Deutschlandpolitik der achtziger Jahre ausführlich
zu befragen, darunter neben dem bereits zitierten Schäuble auch Kohl
und Genscher. Ihm stand auch die archivalische Überlieferung des
Bundeskanzleramtes sowie der fachlich zuständigen Ministerien zur
Verfügung, für die sonst eine strikte dreißigjährige
Sperrfrist gilt. Ein Vorgang, auf den sich andere Historiker fortan berufen
werden.
Man kann nun darüber sinnieren, ob es ehrenrührig ist, wenn
Wissenschaftler im Auftrag der Regierung deren Amtshandeln erforschen.
Auch die politische Nähe von Forschenden und Erforschten mag man
monieren. Doch letztlich zählt die Qualität der Untersuchung.
Und hier hat Korte Beispielhaftes vorgelegt. Angesichts des tiefen Einblickes
in das Machtgefüge und die Funktionsweise der Bundesregierung wird
die Deutschlandpolitik zur Folie einer politikwissenschaftlichen Analyse
praktischer Regierungslehre, die weitaus spektakulärer ist als der
Gegenstand der Untersuchung selbst. Jenseits aller Grundüberzeugungen
war Helmut Kohls Deutschlandpolitik stets am - zumeist innerparteilichen
- Machterhalt orientiert. Die Abgrenzungsrethorik Bonns bediente beiderseits
der Elbe ähnliche Interessenlagen. Im Westen integrierte sie konservative
Deutschlandpolitiker, die stets Verrat an den nationalen Interessen fürchteten.
Im Osten bediente sie das offiziell gewünschte Zerrbild eines latent
feindseligen Nachbarn. Und schließlich signalisierte sie - unmittelbar
und mittelbar - beiden Schutzmächten Bündnistreue.
Auch der Strauß'sche Milliardenkredit hatte eine innenpolitische
Dimension. Denn er band Strauß in die deutschlandpolitische Linie
der Bundesregierung ein. Ein Wegbegleiter Kohls erinnert sich an die Feststellung
des Bundeskanzlers, daß ihm damit "der größte Fischzug
geglückt sei, den er sich je habe träumen lassen".
Korte konstatiert, die Deutschlandpolitik sei zu jeder Zeit "Chefsache"
gewesen, doch der unmittelbare inhaltliche Anteil Kohls an dieser Politik
bleibt letztlich blaß. Die Essenz der Kohlschen Deutschlandpolitik
beschreibt Korte als: "mehr Botschaft als Strategie, mehr gemeinschaftsorientiertes
Selbstverständnis als konkrete Entscheidungsalternative". Das
"System Kohl" baute auf einen Kreis persönlicher Vertrauter
auf, die - nicht nur in der Deutschlandpolitik - die Schlüsselstellungen
im Machtapparat besetzten. Zwischen Kohl und diesen "Personen seiner
politischen Familie" habe "Deckungsgleichheit im politischen
Koordinatensystem" bestanden, "die im konkreten Fall von Prozessen
der Entscheidungsfindung keiner permanenten Rücksprache über
Einzelregelungen bedurfte". Gleichzeitig habe Kohl im Dienste des
Machterhaltes wider eigener Überzeugung darauf verzichtet, in bestimmten
Fällen, etwa in der Frage der polnischen Westgrenze, eindeutige politische
Zielvorgaben zu formulieren. Dazu Korte: "Doch wer derart taktisch
regiert, hat Mühe, inhaltlich richtungsgebend zu wirken, Problemanalysen
zu bieten oder konzeptionelle Orientierung zu leisten.
Der Zusammenbruch der SED-Diktatur im Herbst 1989 erfolgte weder "wegen"
noch "trotz" der Deutschlandpolitik Helmut Kohls. Als jedoch
die deutsche Frage eine Antwort verlangte, wußte der Bundeskanzler
die Gunst der Stunde entschlossen und erfolgreich zu nutzen.
Der Rezensent ist Zeithistoriker in Berlin.
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